Sonntag, 19. Februar 2017

Frühling

Heute morgen beim Laufen im Hasharon-Reservat fotografiert

Funkstille

Hier herrscht seit einiger Zeit Funkstille – aus verschiedenen Gründen:

Mein letzter Beitrag (Jahrtag) wurde unabsichtlich so etwas wie ein Abschlussbeitrag. Irgendwie kann es danach nicht mehr weitergehen.

Es ist bei uns schon länger so schrecklich kalt, dass ich nicht mehr lebe, sondern nur noch  mit heruntergeschaltetem Stoffwechsel und reduzierten Lebensgeistern funktioniere. Von musischer Inspiration kann in diesem Zustand natürlich keine Rede sein.

Ich habe immer zu viel zu tun und die Zeit vergeht einfach zu schnell. Unser Sohn kommt nur an den Wochenenden nach Hause, aber für mich fühlt es sich an, als wäre er jeweils kaum eine Stunde, nachdem er das Haus verlässt, schon wieder da.

Um das Fass vollzumachen, hatten wir am Wochenende fast dreissig Gäste zum Abendessen. Wir feierten kein Fest, keinen Geburtstag, weder Pessach noch Weihnachten, sondern hatten einfach in die Whatsapp-Gruppe unserer Freunde geschrieben „wer kommt?“ und dann auch bei bald dreissig Zusagen noch immer nicht den Mut gehabt, zu sagen „KEIN PLATZ MEHR!!!!“. Gemütlich war es dann eher nicht – aber ganz lustig und ja, es haben dreissig Leute Platz an zwei langen Tischen in unserer Stube.

Ich spiele mit dem Gedanken, anstatt diesen Blog weiterzuführen, meine Beiträge des letzten Jahres zu einem Buch zusammenzufassen. Wie in allen Bereichen meines Lebens habe ich aber auch hier natürlich Zweifel. Zuerst war ich begeistert von der Idee, dann kam ich ins Schwanken. Nach einem sehr überzeugenden Motivationsgespräch mit Eyal arbeite ich nun doch daran - dabei kann er die Geschichten gar nicht lesen, er spricht ja kein deutsch, ist aber ein sehr begabter Überredungskünstler.

Nun lerne ich also das Thema Buch-Publikation im Selbstveröffentlichungs-Verfahren. Darüber gibt es reichlich Informationen und einige Blogs im Internet. Ausserdem lese ich „Amazon Kindle: Eigene E-Books erstellen und verkaufen“. Ich versuche, mich in die Materie einzuarbeiten. Mal sehen, ob etwas daraus wird.

Mittwoch, 8. Februar 2017

Jahrtag

Genau heute vor einem Jahr, um 12 Uhr mittags, blickte ein ein dreister Arzt auf seinen Bildschirm und sagte dann zu mir „es ist Krebs“.

Ein Anlass zum Feiern ist dieser Jahrtag nicht. Aber sicherlich ein Tag, der für mich sehr bedeutungsvoll ist. Natürlich war ich schockiert: Ich und Krebs, das konnte doch nicht sein. Ernsthaft krank? Das waren Andere. Der Krebsbescheid traff mich aus blauem Himmel. Ich wusste kaum etwas über Krebs, konnte eine Strahlen- nicht von einer Chemotherapie unterscheiden. Was ging mich das an? Nur alte und kranke Leute gabelten sich Krebs auf und zu denen würde ich nicht einmal in sehr ferner Zukunft gehören. Schliesslich bekam ich kaum mal einen Schnupfen und ich fühlte mich jung und stark, war sportlich und ernährte mich gesund.

Dann wurde mir dieses Gefühl sorgloser Sicherheit von einer Sekunde auf die andere genommen. Mit den Worten „es ist Krebs“ bekam ich den Pass für die Reise in ein anderes Land, das Krebsland. Die Pforten öffneten sich und ich wurde in die Welt der Kranken katapultiert.

Ich hatte Angst. Was, wenn das Tumörchen in der Brust nur die Spitze des Eisbergs war? Wie würde ich eine Chemotherapie überstehen? Wie würde meine Familie damit klarkommen?

Es folgte eine nicht enden wollende Zeit der Ungewissheit, Sorgen und schwarzer Gedanken, bis sich, mit Eintreffen der Befunde und Aussagen der Ärzte langsam herausstellte, dass ich vielleicht nicht so schlimm dran war. Zum Glück hatte ich die Routine-Untersuchung nicht vernachlässigt und der Tumor wurde früh genug entdeckt. Heute weiss ich, dass die Heilungschance bei Brustkrebs 80% beträgt. An die anderen 20% mag ich gar nicht denken.

Aber nach der OP und der Strahlentherapie folterte mich die Frage nach dem Warum. Warum Krebs? Warum ich? Trage ich Schuld an meiner Krankheit? Zuviel Zucker, Fett, Weissmehl, Würste, Hormone, Funkantennen, elektromagnetische Strahlung?

Und abgesehen von äusserlichen Krebsverursachern – gibt es Zusammenhänge zwischen unserem seelischen und unserem körperlichen Befinden? Kann uns unsere Psyche krank machen? Wenn man schon an Krebs erkrankt ist, können solche Theorien sehr beunruhigend wirken. Fördern wir die Krebsbildung, wenn wir auf Dauer unzufrieden sind, und vor allem - auch wenn wir uns dessen vielleicht gar nicht bewusst sind? Schliesslich gibt es keinen Massstab für Zufriedenheit oder seelischen Stress und der Mensch ist ein wahrer Künstler darin, sich mit den absurdesten Lebenssituationen abzufinden und sich immer noch vorzugaukeln, dass alles in bester Ordnung ist.

Unterdessen habe ich mich damit abgefunden, dass es auf diese Fragen wohl keine Antwort gibt und ich gebe mir grosse Mühe, mich von ihnen nicht in den Wahnsinn treiben zu lassen. Es ist beruhigender, zu denken, dass ich einfach das falsche Los gezogen habe. Ja, ich bevorzuge den Glauben an das Zufallsprinzip, es befreit mich von Schuld und Verantwortung.

Ich bin wieder gesund - aber ich stehe heute mit viel wackligeren Beinen im Leben. Die alte Sicherheit ist futsch - sie war ja auch nur eine Illusion. Wir nehmen täglich an vielen Lotterien des Lebens teil, ohne es zu ahnen.

Im Nachhinein weiss ich, dass ich sehr viel Glück gehabt habe und glimpflich davongekommen bin. Schlussendlich waren die Monate der Krankheit nicht viel mehr als ein schlechter Traum, den mir das Leben auf die Tagesordnung gesetzt hat. Aber ein Traum, der mich kräftig durchgeschüttelt und mich dazu bewogen hat, vieles neu zu überdenken.

Dienstag, 7. Februar 2017

Esther

Vor etwas weniger als einem Jahr wurde auf facebook für eine einsame Frau im Heim für Holocaust-Überlebende in Sha’ar Menashe eine Bezugsperson gesucht, für gelegentliche Besuche und wenn möglich deutsch sprechend. Der Aufruf erreichte mich zu einem Zeitpunkt, zu dem ich gerade gerne mein Leben etwas über den alltäglichen Tellerrand hinaus erweitern wollte. Immer nur Arbeiten, Geld verdienen, Haushalt, ein bisschen Vergnügen, einige Hobbies. Alles drehte sich nur um mich selbst und meine Nächsten. Da musste doch noch mehr sein - andere Dimensionen...

So lernte ich Esther kennen.

Esther war im Oktober des letzten Kriegsjahres in Budapest geboren und nach der Geburt vor den Nazis versteckt worden. Nach dem Krieg wuchs sie mit ihrer Mutter in Budapest auf und lebte abwechselnd in Österreich, Deutschland und Israel. Vieles im Leben kriegte sie wohl nicht so richtig auf die Reihe. Einmal war sie verheiratet und bald wieder geschieden und der einzige Sohn schien auch mehr Sorgen als Freude zu bereiten.

Esther sprach deutsch, ungarisch und ein wenig hebräisch, je nach Zustand manchmal mehr von diesem, mehr von jenem, oder alles durcheinander. Wie viele der Insassen im Heim hatte Esther niemanden, keine Familie und keine Bezugsperson, die vorbeikamen. Geschwister waren ihr keine vergönnt und der Sohn hatte vor einigen Jahren den Kontakt zu ihr abgebrochen. Esther freute sich sehr über meine Besuche, wir lösten Kreuzworträtsel zusammen, ich las ihr Geschichten ihres Landsmannes Ephraim Kishon vor, wir gingen in der Sonne spazieren (Esther im Rollstuhl), assen Schokolade und unterhielten uns über Verschiedenes. Erst nach einigen Besuchen wagte Esther mich zu fragen, ob ich sie nun regelmässig besuchen würde, was ich bejahte.

Esther hatte einen sehr besonderen Humor und war meistens guter Laune. Trotz des tristen Alltags im Heim sagte sie stets, es gehe ihr gut und sie war immer für einen Schalk zu haben.

Leider verschlechterte sich ihr gesundheitlicher Zustand sehr schnell. Nach einem Schlaganfall litt sie an epileptischen Anfällen und musste immer wieder hospitalisiert werden. Bei einem meiner letzten Besuche beklagte sie sich, dass es ihr „miserabel“ gehe. Als ich sie vor einer Woche besuchte, sagte sie gar nichts mehr, nur ihre Augen leuchteten auf, als ich ihr Schokolade anbot, die sie ass und dann vollständig wieder aushustete.

Am Montag, den 6. Februar ist Esther gestorben. Besonders traurig finde ich, dass sie ihre letzte Stunde einsam in einem anonymen Krankenhausbett verbringen musste.

Zehn Polizisten, drei religiöse Bestattungsleute und ich – so könnte ein schlechter Witz anfangen. Leider handelt es sich aber um eine besonders trostlose Beerdigung. Aus rechtlichen Gründen musste Esther in Tel-Aviv beerdigt werden, so dass die Heiminsassen und Angestellten, die sonst die alleinstehenden Patienten in Sha‘ar Menashe auf ihrem letzten Weg begleiteten, nicht an der Zeremonie teilnehmen konnten. Ich war die einzige Anwesende, die Esther gekannt hatte. Ausserdem hatte man noch zehn Polizisten auftreiben können, die bereit waren, der Bestattung beizuwohnen, um einen Minjan (die für das Gebet notwendige Zahl von zehn Männern) voll zu machen. Sonst war niemand da. So fiel mir auch noch die undankbare Aufgabe zu, die Leiche zu identifizieren. Tja, das hat man nun davon, wenn man neue Dimensionen im Leben erkunden will.

Nein, so hatte ich mir diese Aufgabe nicht vorgestellt. Es sollte eine langjährige Freundschaft werden. Im Tagebuch, das ich seit einem Jahr schreibe, handeln einige Beiträge von Esther und ich bin froh, dass ich die Momente mit ihr wieder hervorkramen kann. Erst jetzt wird mir klar, dass sie mein Leben wirklich bereichert hat.

Als ich Esther einmal im Krankenhaus besuchte, lag sie mager und schwach im Bett und ich sass nur da, es gab nichts zu sagen und nichts zu tun. Nach einiger Zeit fühlte ich mich überflüssig und wollte mich aus dem Staub machen, aber sie sah mich an und bat: geh noch nicht! So setzte ich mich wieder hin.

Gerne erinnere ich mich auch an folgendes: Wir sassen mit den anderen Heimbewohnern am Tisch (die Hauptbeschäftigung im Heim...), wie immer war der Lärmpegel ziemlich hoch, einige der Insassen weinten, brabbelten oder schrieen. Esther schaute mich an und sagte ruhig und in reinstem deutsch: du hast so wunderschöne blaue Augen! Ich musste lachen und konterte - du auch! Jetzt lachten wir beide.

So viele Menschenleben werden achtlos geboren und achtlos wieder weggeworfen. Es sind die zwischenmenschlichen Beziehungen, die ihnen Wert verleihen.