Montag, 18. März 2024

Die Welt steht Kopf

Mein Alltag hat sich normalisiert. Ein Alltag im Ausnahmezustand. Alles soll so normal wie möglich weitergehen, trotz den ungewöhnlichen Umständen. Und das tut es und ich habe das Gefühl, dass es nicht nur mir so geht. Es gibt Routine, aber normal ist gar nichts. Auch während ich diesen Beitrag schreibe, vernehme ich mehrere Male das dumpfe, aber unverkennbare Brummen von Flugzeugen, die über unsere Region in den Norden fliegen. Es ist kein Personenflugverkehr.
Ich arbeite, verbringe meine Freizeit mit den üblichen Beschäftigungen, reise sogar. Aber mit einem kleinen Unterschied, der alles verändert: Die Lebensfreude ist grösstenteils weg, oder nur noch in einigen spärlichen Momenten vorhanden.
Das ist nicht verwunderlich, denn zu unserem Alltag gehören die traumatischen Erinnerungen an die Ereignisse des 7. Oktobers, ein Krieg ohne absehbares Ende, gefallene Soldaten, die unsere Kinder und Ehemänner sind, tägliche Attentate und die Auseinandersetzung mit den in Gaza festgehaltenen Geiseln.


Die Meldungen über gefallene Soldaten folgen jeden Morgen, so sicher wie der nächste Sonnenaufgang. Jede einzelne Meldung zerreisst mir das Herz. Meistens sind die Soldaten im Alter meiner Kinder. Vor einigen Tagen der 21-jährige David Sasson aus unserem Nachbardorf, der einen Jahrgang unter meiner Tochter Lianne die Oberstufe besuchte. Was für ein wunderbarer, wertvoller, schöner junger Mann. 





Als ob der Krieg an den Fronten nicht genug wäre, werden im Zentrum Israels fast täglich Menschen in eben so brutalen wie sinnlosen Attentaten ermordet.

Der 7. Oktober rückt in die Ferne, aber für uns ist er jeden Tag präsent. Noch immer ist die Zahl eben so unfassbar wie die Gräueltaten selbst: 1200 Ermordete. Ich verfolge Iron.Flowers2023 auf Instagram, wo jedem von ihnen einige Bilder und Zeilen gewidmet werden. 1200 strahlende, lachende, junge Menschen, voller Leben und Begabungen und Erwartungen an die Zukunft. Die Umstände ihres Todes sind immer unvorstellbar grauenhaft. Auch wenn man es noch so sehr möchte – man kann das in Israel nicht ignorieren, denn es handelt sich um die Kinder unserer Nachbarn, unserer Mitarbeiter und unserer Freunde.


Dieses Wochenende lese ich einen Beitrag über die Schwestern Hodaya und Tair David, zwei lebensfrohe junge Frauen im Alter von 23 und 26 Jahren, die das verhängnisvolle Musikfestival in Re'im besucht hatten. Ihr Vater Uri erzählt, er habe am frühen Samstagmorgen des 7. Oktobers dreissig Minuten lang mit ihnen telefoniert, wahrend sie vor den Terroristen flüchteten. Als er am Telefon Schüsse hörte, sagte er ihnen, sie sollten sich auf den Boden legen, möglichst leise atmen und sich an den Händen halten. Dann hörte er Stimmen auf Arabisch, kurz darauf wurde die Leitung unterbrochen. Wie so viele suchte er eine ganze Woche lang verzweifelt nach Informationen, bis die Beamten ihm die schlechte Nachricht überbrachten. Der Tod seiner beiden Töchter sei durch einen DNA-Test bestätigt worden, und es wurde ihm nahegelegt, sich die Leichen nicht anzusehen.


Das Trauma des 7. Oktobers ist immer da. Wie tanzende Schatten an der Wand nimmt es für jeden von uns täglich andere Formen an. 


Itay trifft sich am Freitagabend mit Freunden und erzählt am Morgen danach von den Erlebnissen eines Kameraden, der am 7. Oktober im Dienst um sein Leben gekämpft und durch ein Wunder überlebt hat. Er musste sich den Weg über die entstellten Leichen seiner Freunde bahnen und hat in den Tagen und Wochen danach Schreckliches und Unbeschreibliches gesehen. Trotzdem ist er seit dem 7. Oktober ununterbrochen im Dienst. Die Bilder, die ihn rund um die Uhr verfolgen, gehören dazu, zum Dienst, zu seinem Alltag, und zu den Gesprächen dieser Generation, wenn sie sich abends auf ein Bier treffen.



Und dann die Geiseln... Ich habe das grosse Glück, dass niemand in meiner Kernfamilie direkt betroffen ist. Es muss schrecklich sein, wenn ein Familienmitglied, gar das eigene Kind, durch Mord oder ein Attentat aus dem Leben gerissen wird. Geiselhaft aber bedeutet stückweise Sterben. Sterben der Hoffnung, Sterben des geliebten Menschen in einer unermesslichen Anzahl nicht enden wollender grauenhafter Momente. Stunde für Stunde, Minute für Minute, Sekunde für Sekunde stirbt die Hoffnung ein weiteres Stück, entfernt sich der geliebte Mensch ein weiteres Stück vom Leben, bis in nicht absehbarer Zeit ein grauer Schatten übrigbleibt, unklar, ob lebend oder tot. Eine unvorstellbare Tortur.




Aber vielleicht das Schlimmste an der Situation, in der wir uns befinden, ist die Reaktion des „zivilisierten Westens“ auf Israels Verteidigungskrieg gegen den völkermordenden Feind. Die Bevölkerung Israels befindet sich in einem Zustand von Trauma, Trauer und Angst. In dieser verzweifelten Situation auch noch des Verbrechens beschuldigt zu werden, dessen Opfer wir sind – das ist so unbeschreiblich peinigend, dass ich mich gar nicht damit beschäftigen kann.

Israel und die israelische Armee werden als mutwillige Mörder Unschuldiger dargestellt. Israel und die israelische Armee – das sind ich und meine Kinder.

In den Acht-Uhr-Nachrichten schnappe ich auf dem Weg ins Büro auf, dass Rania, die Königin von Jordanien behauptet hat, Israel hätte die Katastrophe vom 7. Oktober „nur einmal“ erlitten – das palästinensische Volk in Gaza hingegen hätte bereits mehr als 150 Mal den 7. Oktober erlebt. Was für eine unerträgliche, verlogene Behauptung! Kein einziger israelischer Soldat verfolgt, schändet, missbraucht und ermordet jubelnd und frohlockend unschuldige Zivilisten, wie es die palästinensischen Terroristen am 7. Oktober getan haben. Ich weiss das aus erster Hand, denn die israelischen Soldaten sind meine Kinder und ihre Freunde. Ich weiss, was sie tun und wie sie sich dabei fühlen.

Wenn es wirklich 30'000 palästinensische Opfer geben soll – wo sind die Listen mit den Namen? Wo sind die Bilder? Wo sind die Gräber? Und wie kann es sein, dass die Hamas zuverlässig Zehntausende Tote zählen kann, gleichzeitig aber behauptet, keine Informationen darüber zu haben, wie viele der mehr als Hundert israelischen Geiseln noch am Leben sind und wo sie festgehalten werden?

Ich konsumiere nur noch ganz selten westliche Medien, aber manchmal wage ich es, dem Horror ins Gesicht zu sehen. Fast alle Berichte sind entweder gezielte Fehlinformationen, oder einfach vollkommen verzerrt und gelogen. Und erst die Leserkommentare! Warum glauben so viele diese offensichtlichen Unwahrheiten, die von der Hamas verbreitet werden? Warum fallen so viele auf diese unverfrorene Verdrehung der Tatsachen herein? Warum mutet sich jeder Hinz und Kunz in Europa an, haargenau zu wissen, was bei uns abläuft und meint, seinen Senf dazugeben zu müssen? Warum erdreisten sich Menschen von ihren gemütlichen Stuben aus, uns, die Geschändeten, die Traumatisierten, mit Füssen zu treten, während wir einen verzweifelten Kampf um unser Überleben kämpfen? Wie kann es sein, dass ein Grossteil der Menschheit so schnell wieder ihren moralischen Kompass verliert? Es ist einfach unerträglich, mir wird schlecht, wenn ich mich damit befasse.

Die Welt steht Kopf. Politiker biegen die Wahrheit nach eigenem Vorteil krumm und verbreiten unsinnige Informationen. Medien übernehmen skrupellos erlogene Nachrichten. Die Menschheit hat den Kurs verloren und identifiziert sich mit paradox verdrehten Werten.

"Es ist, als würde ich im Auto auf der richtigen Spur fahren, während mir jedoch Dutzende hasserfüllte Zombies entgegenkommen, die glauben, dass ich in die falsche Richtung fahre und die mich deswegen töten wollen." Das schreibt Arye Shalicar, der deutschsprachige Militärsprecher der IDF. Arye verspricht, dass er stabil auf der richtigen Spur bleiben wird, komme was wolle! 

Ich bin überzeugt, dass der Krieg sehr schnell zu Ende sein könnte, wenn wir alle in die richtige Richtung fahren würden! 



Ein Moment des Staunens am Donnerstagabend

Sonntag, 25. Februar 2024

Fusion

Wie immer hat das Abstand nehmen gut getan. Ich kann in der Schweiz etwas abschalten, tanke neue Kräfte und kehre – trotz der weiterhin katastrophalen Situation – etwas zuversichtlicher nach Israel zurück. Nicht zuletzt ist das der wunderbaren Basler Fasnacht zu verdanken. Die Ausgelassenheit an diesem Anlass, die grenzenlose Kreativität und der Aufwand bringen mich zum Staunen und Lachen wie ein kleines Kind. Das scheint ja auch das hauptsächliche Bemühen der aktiven Fasnächtler zu sein: gute Laune zu verbreiten und Menschen fröhlich zu stimmen. Ja, vor allem Kinder. Für sie müssen diese Tage besonders bezaubernd sein. Die Waggisse (traditionelle Fasnachtsfigur) steigen während dem Cortège von den Wagen, um den "Binggis" (Kinder) Süssiggkeiten und kleine Geschenke in die Taschen zu stecken. Wie wundervoll muss es für die Kleinen sein, von diesen zauberhaften Figuren mit so viel Aufmerksamkeit und allem, was ihr Kinderherz begehrt, überhäuft zu werden. 

Wie schön wenn eine Gesellschaft ihre Kinder ehrt und sie zu Werten von Weltlichkeit, Selbstbestimmung, Individualität, Solidarität, Toleranz und vor allem Respekt gegenüber jedem einzelnen Menschen und dessen Würde grosszieht.

 


Während in Basel die Stadtverwaltung die Räppli (Konfetti) von den Strassen putzt, fahren wir zum Flughafen in Zürich und ehe ich mich versehe und ohne richtig wahrzunehmen, was dazwischen passiert, erwache ich am nächsten Morgen wieder in meinem eigenen Bett in Israel.

Warum zermartere ich mir eigentlich schon eine Ewigkeit mit dem Identitätsdilemma Israel-Schweiz den Kopf? Seit Jahren fühle ich mich hin- und hergerissen. Bin ich nun Israeli oder Schweizerin? Wo fühle ich mich wirklich zu Hause? Bin ich ein Pferd oder bin ich ein Esel?
Manchmal wächst man in die Antwort hinein. Ich muss mir diese Frage gar nicht stellen. Ich bin beides. (Ja, auch ein Esel)
Offensichtlich kann man zwei Heimaten haben. Ich lebe seit mehr als der Hälfte meines Lebens in Israel und bin inzwischen wohl vor allem sehr Israeli. Ich fühle mich aber auch in der Schweiz immer noch sehr wohl und zu Hause. Nicht alles muss in eine Schublade passen. Vor allem nicht ein Herz.
Heute koche ich – von der Schweiz inspiriert – Rösti und dazu die heute Morgen wieder im Zitrushain frisch gepflückten israelischen wilden Spargeln. Wie nennt man das noch gleich? Fusion?



Leider bringt diese Fusion im Moment nicht nur Gutes. Wenn mich auch die Distanz und die Fasnacht dazu verführt haben, etwas abzuschalten, ist es mit der Unbeschwertheit schlagartig nach der Landung im Ben Gurion Flughafen vorbei. Beim Gang zur Passkontrolle erinnern grosse, sorgfältig aufgereihte Gesichter mit Namen und Alter an jede einzelne der israelischen Geiseln in Gaza. Mehr als Hundert grosse Bilder stehen da und sie versinnbildlichen den Heimkehrenden oder auch den seltenen Touristen, was Israel im Moment ist: nicht Palmen und Mittelmeer, nicht Wüste und Totes Meer, nicht Humus und Felafel. Geiseln, Krieg und Attentate. Schon 141 Tage. Wie lange noch? Die Tage ziehen sich in die Länge und werden zu einer nicht mehr nachvollziehbaren Masse. Der israelische junge Soldat Gilad Shalit wurde mehr als fünf Jahre in Gaza festgehalten. Was wird mit diesen Geiseln sein?

Als ich am Morgen in meinem bequemen Bett noch die aufgrund der Reise fehlenden Stunden nachschlafe, fahren drei palästinensische Mörder mit zwei Autos an das Ende eines Staus auf der Autobahn am Stadtrand von Jerusalem und eröffnen mit automatischen Waffen das Feuer. Bewaffnet mit Gewehren, Maschinenpistolen und Handgranaten schiessen sie wahllos auf einer Strecke von einem halben Kilometer auf die in den Autos sitzenden Menschen. Sie ermorden einen 26-jährigen Israeli und verletzen elf weitere zum Teil schwer. Viele erleiden Schusswunden im Oberkörper. Eine junge hochschwangere Frau muss in kritischem Zustand notoperiert werden, es ist unklar, ob ihr ungeborenes Kind gerettet werden kann. Ein 23-jähriger Soldat, der vor zwei Wochen aus dem Gazastreifen zurückgekehrt ist, eliminiert die um sich schiessenden Terroristen und kann so ein grösseres Blutbad verhindern, wird aber auch schwer verletzt. 
Die Terroristen stammen aus Bethlehem, einer von ihnen ist Arzt und junger Familienvater. Dass er von diesem Attentat nicht lebend zurückkommen wird, muss er einkalkuliert haben. Hat es sich für die palästinensische Sache gelohnt? Hat es seine, nun verwaisten, Kinder auch nur einen Schritt weiter in eine bessere Zukunft gebracht?






Montag, 19. Februar 2024

Planet Schweiz




Trotz eingeschränkter Flugmöglichkeiten, entspreched hohen Preisen und der Sorge, wegen einer eventuellen Eskalation des Krieges nicht zurückkehren zu können, fliege ich für einige Tage in die Schweiz. Der Kulturschock, den der Austausch der gewohnten Umgebung jeweils mit sich bringt, war in der Vergangenheit mit etwas Humor leicht zu bewältigen. Jetzt, unter den gegebenen Umständen, fühlt sich die Reise von der Kriegszone Israel in die friedliche Schweiz an, als würde ich auf einen anderen Planeten katapultiert.  Alles ist so komplett anders hier, vor allem die – vielleicht nur scheinbare – Sorglosigkeit. Doch der tiefe Schmerz in mir und die Hoffnungslosigkeit – sie reisen mit. Zum Glück wurde meine Tochter Sivan Ende Januar aus ihrem mehrmonatigen Militär-Reservedienst entlassen und kann mich begleiten, so habe ich eine Schicksalsgenossin, mit der ich mein Empfinden teilen kann. Es dauert mehrere Tage, bis ich auf dem fremden Planeten einigermaßen ankomme. Nachts schrecke ich vom Lärm der Kampfflugzeuge hoch. Dann erinnere ich mich, dass es hier nur das Tram ist, drehe mich auf die andere Seite und versuche, wieder einzuschlafen.

Die Gedenkfeier für einen lieben ehemaligen Klassenkollegen kommt einer weiteren Reise auf einen anderen Planeten gleich, den Planeten "Gymnasium vor 40 Jahren". Fast alle ehemaligen Mitschüler sind gekommen und der Anlass war traurig, seltsam und kurios zugleich. Alle sehen noch aus wie damals, nur mit etwas Falten und grauen oder gar keinen Haaren.

Ich hatte große Bedenken vor dem Treffen. Nicht nur weil Balz so schmerzhaft fehlte in unserer Mitte. Seit dem 7. Oktober gehe ich Menschen aus dem Weg, die mir nicht sehr nahe stehen. Ich kann mich nicht mehr über Oberflächliches unterhalten. Das sind schlechte Voraussetzungen für eine Zusammenkunft mit einst sehr vertrauten "Kollegen", die mir nach vierzig Jahren Distanz völlig fremd geworden sind. Außerdem befürchtete ich gängige pro-palästinensische Äusserungen – die für mich und meine Liebsten einem Todeswunsch gleichkommen. Für den Fall, dass sich jemand erdreisten würde, die "Unverhältnismäßigkeit der israelischen Reaktion in Gaza"  zu kritisieren, hatte ich mich vorsorglich mit einigen farbigen Flugblättern eingedeckt. Diese zeigen die vier neunzehnjährigen Mädchen Agam, Daniela, Liri und Karina, die verletzt, geschändet und misshandelt, mit mehr als 100 anderen Israelis immer noch als Geiseln in Gaza festgehalten werden. Das Flugblatt hätte ich anstelle einer bestimmt zum Scheitern verurteilten Debatte gezückt. Ich finde, das schlägt jedes auch nur erdenkbare Argument.

Aber am meisten bangte mir, dass gar niemand etwas über unsere Situation in Israel sagen oder fragen würde.
Ich war positiv überrascht. Einige sprachen das Thema Israel an. Das waren vor allem diejenigen, die ein einigermaßen akzeptables Verständnis der Situation zu haben scheinen.
Erfreulicherweise fragten mich fast Alle mit aufrichtigem Interesse, wie es mir geht, obwohl man ja mit dieser Frage recht unangenehme Antworten oder Reaktionen riskieren kann. 

Die Flugblätter blieben bis jetzt auf jeden Fall in der Tasche. Vielleicht werde ich sie am letzten Tag noch an irgendwelche zufälligen Passanten verteilen.
Offensichtlich sollte ich mir im Allgemeinen weniger Gedanken machen, aber das war im fernen Israel schwer abzuschätzen, wenn man mitten in der Katastrophe steckt und nur noch ein Thema das Leben beherrscht.

Von Montag bis Mittwoch besuchen wir einen weiteren fremden und sehr exotischen Planeten, auf dieser Reise, die gefühlt schon fast ein halbes Sonnensystem umspannt: Die Basler Fasnacht.

Vom Planeten Fasnacht aus ist die Sicht auf das Geschehen in Israel noch einmal eine andere. Die Vorfälle im Nahen Osten vermischen sich und werden schwer nachvollziehbar. Da und dort werden bei Attentaten Menschen ermordet, weil sie jüdisch sind. Das könnte man mit etwas geografischer Distanz leicht übersehen oder ignorieren, aber wenn man es weiß, ist es aus der Ferne fast noch unfassbarer.
 
Wir hingegen ziehen am Morgestraich staunend und begeistert mit den Cliquen und Hunderttausenden Frühaufstehern durch die Gassen der Basler Altstadt. Wir essen um fünf Uhr morgens Ziebelewäie und Mählsubbe, als wäre es das Normalste in der Welt. Alle sind fröhlich und ausgelassen. Die Fasnacht ist ein Fest der Fröhlichkeit und der Sinne. Wie betörend schön das Leben sein kann, wenn einem niemand nach dem Leben trachtet. Das ist leider den Israelis nicht vergönnt.



Meine aktuelle Lektüre, "die Todgeweihte" von Titus Müller, sorgt dafür, dass ich nicht allzu euphorisch über mein geliebtes Basel werde. Das Buch hat die Judenverfolgung in Basel im 14. Jahrhundert zum Thema.  Bei dem historischen Roman handelt es sich nicht um ein literarisches Glanzstück, aber er zeigt auf, dass auch in genau diesen Gassen schon Menschen verfolgt und ermordet wurden, weil sie Juden sind und das nicht nur im 14. Jahrhundert.

In wenigen Tagen werde ich wieder nach Israel reisen. Darauf habe ich mich in der Vergangenheit immer sehr gefreut. Jetzt lastet es mir schwer auf den Schultern. Aber meine Familie ist in Israel. Mein Herz ist in Israel.












Sonntag, 21. Januar 2024

Das Ende einer Ära?

Diese Woche:

Bei Angriffen aus dem Libanon werden am Sonntag in der Grenzortschaft Kfar Juval im Norden Israels zwei Menschen von Panzerabwehrraketen der Hisbollah direkt getroffen und getötet. Ganz offensichtlich hat die Evakuierung der Menschen im Norden Israels gute Gründe. Die Raketenangriffe sind nicht zu verniedlichen.

Am Montag informiert die IDF über einen umfangreichen Truppenabzug aus dem Gazastreifen, aufgrund des "Übergangs zu einer fokussierteren Phase". Kaum sind die Truppen abgezogen, erfolgt ein intensiver Raketenangriff auf die israelische Stadt Sderot. Der Raketenhagel erfolgt genau aus dem Gebiet in Gaza, aus welchem die IDF soeben abgezogen ist. Etwa 50 Raketen feuert die Hamas ab – vermutlich feiern sie nach dem Abzug ihren Sieg über die Israelis.

In Ra'anana, einer nahegelegenen Stadt die ich öfters besuche, verüben zwei Palästinenser eine kombinierte Ramm- und Messerattacke im Stadtzentrum. Mit gestohlenen Autos rammen sie erbarmungslos Kinder, die nach Schulschluss an einer Bushaltestation warten. 17 Menschen werden verletzt, die meisten davon Kinder, ein 16-Jähriger wird schwer verletzt. Eine Frau wird bei dem Angriff getötet. Wir sind uns an die Terrorattacken gewöhnt – aber so unverfroren im Kernland Israels? Und gegen Kinder? Es ist wirklich furchtbar, wenn man um Kinder auf dem Schulweg Angst haben muss.

Es ist weiterhin nicht sympathisch hier. Ich bin nicht sehr zuversichtlich, was den Ausgang dieses Krieges anbetrifft. Laut einer offiziellen Quelle aus den USA sind bisher nur etwa ein Drittel der Hamas-Terroristen vernichtet worden und die Terrorguppe verfügt auch jetzt noch über ein Waffenarsenal, das mindestens für zwei weitere Monate ausreichen kann. In den Nachrichten höre ich aber gerade, dass über ein weiteres Geiselabkommen und ein Ende des Krieges verhandelt wird. Die Vorstellungen über das Ziel des Krieges sind widersprüchlich, und noch viel mehr Verwirrung scheint darüber zu herrschen, wie es erreicht werden soll.

Zusätzlich zu den Bedrohungen von aussen schwebt die Uneinigkeit des israelischen Volkes wie eine grosse schwarze Wolke über uns. Meines Erachtens sind viele Israelis politisch völlig verblendet und nicht in der Lage, den wirklichen Feind zu erkennen. So kann man die Probleme, die ja wirklich fast unlösbar sind, nicht angehen.

Auch betreffend der Zukunftsvision für Gaza sind das israelische Volk und auch die Regierung tief gespalten. Präsident Biden lässt verlauten, dass eine zukünftige Lösung einen palästinensischen Staat wird miteinbeziehen müssen. Aber mir schwant Übles – mit oder ohne palästinensischen Staat. Ich mag nicht an die Zukunft hier im Nahen Osten denken. Ich befürchte, dass die Chance für ein islamisches Kalifat anstelle des Staates Israel immer konkreter wird.




Ein Blick in die Zukunft:

Es ist an der Zeit, wieder einmal im Kreise der Familie die Idee, auszuwandern auf den Tisch zu bringen. Schliesslich haben wir alle rote Pässe...

Die Kinder fantasieren sofort begeistert mit. Doch bei näherem Hinsehen hält das Projekt dem Test der Realität nicht stand. Nur mir, als gebürtige Schweizerin, würde es wahrscheinlich nicht allzu schwer fallen, wieder in der Schweiz zu leben – wenn auch schweren Herzens. Bei meinem global organisierten Arbeitgeber arbeiten die meisten Mitarbeiter von zu Hause und es könnte eine beträchtliche Weile dauern, bis die zuständigen Personen überhaupt bemerken, dass mein Computer einige Tausend Kilometer weiter westlich steht als angenommen – und bis dann wäre ich vielleicht flugs auch schon in Rente. Aber abgesehen von mir könnte ein Neuanfang für die weiteren Familienmitglieder sehr schwierig werden. Die Partner, die Freunde, die Sprache, die Arbeit – die Kinder und der Ehemann sind hier in Israel verwurzelt. Und uns aufzuteilen? Einige von uns dort in Sicherheit, die anderen da in Lebensgefahr?

Was meinst du – frage ich Eyal angesichts der immer brenzliger werdenden Lage mit dem Iran – werden wir den richtigen Zeitpunkt erkennen, um diesen Schritt zu tun? Wahrscheinlich erst zu spät, meint er nüchtern. Damit ist das Projekt wieder bis auf Weiteres begraben und wir gehen dazu über, den möglichen Ankauf eines Generators zur Stromerzeugung für den Ernstfall zu besprechen.




Ein Blick in die Vergangenheit:

Als die Familie meiner Schwiegermutter 1951 aus dem Irak nach Israel kam, war der Neuanfang bestimmt auch kein Vergnügen. Um so mehr, da ihnen von den Vorfahren seit Generationen ein Land beschrieben wurde, in dem Milch und Honig fliessen. Abgesehen von einigen in die Kleidersäume eingenähten Schmuckstücken musste die Familie allen Besitz in Bagdad zurücklassen. Die Schlüssel zum grossen Haus deponierten sie bei den Nachbarn – auf Nimmerwiedersehen. Die älteren der elf Kinder waren schon einige Monate zuvor im Rahmen von Jugendbewegungen nach Israel gereist und von verschiedenen Kibbutzim als billige Arbeitskräfte sofort eingespannt worden. Mit den jüngeren Kindern lebte die Familie zwei Jahre aus Koffern, schlief auf Feldbetten, wohnte in Zelten. Meine Schwiegermutter kann bis heute kaum lesen. Im Irak war die jüdische Schule schon Jahre vor ihrer Ausreise geschlossen und im jungen Israel besuchte sie als Elf- und Zwölfjährige improvisierten Unterricht mit den Erst- und Zweitklässlern der Auffangslager. Der Vater, der in Bagdad ein angesehener Mann war, versuchte mit Gelegenheitsarbeiten die Familie durchzubringen. Irgendeine Altersvorsorge gab es natürlich nicht und die älteren Söhne, die die Familie hätten unterstützen können, entfielen aus obengenannten Gründen.

Trotz allem ist meine Schwiegermutter heute überzeugt, dass die Jahre in den Zelten der Übergangslager die glücklichsten ihres Lebens waren.

Solche Superlative erwarte ich natürlich nicht, auch nicht ein Land in dem Milch und Honig fließen. Aber etwas weniger verwöhnt sollte man vielleicht schon sein, wenn man irgendwo eine neue Zukunft aufbauen will. Ich werde die Möglichkeit jedenfalls weiterhin erwägen und hoffe, dass wir den Zeitpunkt, uns rechtzeitig abzusetzen, doch nicht verpassen.




Ein Blick aus dem Fenster:

Ich bin zutiefst traurig, dass ich diese Zeilen überhaupt schreibe. Leider entsprechen sie meinem Eindruck von unserer Situation. Die Lage wird von Tag zu Tag brenzliger. Das jüdische "sich-nicht-unterkriegen-lassen“, der sprichwörtliche Optimismus, auch wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird, das ist nicht mehr da. Es ist Uneinigkeiten, Hass und Zwietracht unter den Israelis gewichen. Das Gefühl vom Ende einer Ära lässt sich nicht mehr abschütteln. Die Gründung des Staates Israels war bestimmt ein berechtigter, vielleicht aber ein gescheiterter Versuch. Das Scheitern könnte schlussendlich, zusammen mit den Bedrohungen von aussen, auch auf Uneinigkeiten unter den Juden selbst zurückzuführen sein, wie schon bei der Zerstörung des ersten und des zweiten Tempels.



Sonntag, 14. Januar 2024

Wenn der Hochzeitstag zu einem Horrortag wird

Die Bilder und Ereignisse des 7. Oktobers lassen uns nicht los. Unsere Uhren stoppten am 7. Oktober und seither leben wir diesen Horrortag immer wieder, in Endlosschlaufe.

Besonders fällt mir das auf, wenn die älteren Kinder die Wochenenden bei uns verbringen. Natürlich sprechen wir auch über anderes, über Dinge, die uns nun oberflächlich erscheinen – aber die Ereignisse des 7. Oktobers und der Krieg nehmen den meisten Raum ein. Die Erlebnisberichte und die Schicksale der Betroffenen, zu denen auch wir in gewissem Masse gehören, beschäftigen uns rund um die Uhr. Hier, im Kreise der engsten Familie, fühlen sich alle wohl und erlauben sich, mitzuteilen, zu diskutieren, über die belastenden Geschichten zu berichten, die man kaum in Worte fassen kann und über Ängste und Sorgen zu sprechen. Wir essen, trinken Wein und sprechen über unfassbar Schreckliches. Es ist absurd, wie normal das geworden ist!

Itay berichtet von den Fortschritten unseres Freundes Alon. Drei Monate nach seiner lebensbedrohlichen Verletzung konnte Alon nun in die Rehabilitationsabteilung der Klinik umziehen. 
In der Rehabilitationsabteilung machen die Patienten und ihre Angehörigen Bekanntschaft mit vielen neuen Schicksalsgenossen – und ihren haarsträubenden Geschichten. Nebst etwa 1,200 Ermordeten gibt es ja auch Tausende Verletzte, von denen kaum jemand spricht. Tausende Verletzte mit ebenso vielen grauenvollen Geschichten. Itay erzählt uns von einer jungen Frau, die das Pogrom in einem der Gaza-grenznahen Kibbutzim mit 70 Prozent Verbrennungen am ganzen Körper überlebt hat. Ihre mühsame Genesung verbringt sie in der Rehabilitationsabteilung zusammen mit ihrer kleinen Tochter, die mit schweren Verbrennungen an beiden Händen davongekommen ist. Itay erzählt, dass die Mutter in den langen Stunden des Wartens auf Hilfe sich vor allem um ihre ebenfalls verletzten Kinder sorgte und trotz den grossflächigen Verbrennungen sogar ihr Baby stillte.

Itay erwähnt auch kurz, dass er aus erster Hand viele weitere horrende Schicksalsberichte vernommen hat, uns diese aber nicht zumuten will. Kurz wird es still am Tisch, dann gehen wir zum nächsten Thema über.

Meine Töchter sind über eine gemeinsame Freundin auf das Schicksal von Eden Yerushalmi aufmerksam geworden. Eden ist eine von den vierzehn Frauen, die immer noch in Gaza festgehalten werden. Heute sind es 100 Tage. 100 Tage ohne ein Lebenszeichen. Als Eden am 7. Oktober von der Nova-Party vor den Terroristen flüchtete, versteckte sie sich zuerst in einem Auto neben den Leichen von zwei ermordeten Freunden, später irgendwo in den Büschen. In den fast vier Stunden bis die Terroristen sie schlussendlich fanden und brutal verschleppten, hielt ihre Schwester mit ihr am Telefon durch und versuchte, sie zu beruhigen. Hier ist die Geschichte von Eden.

Nach dem Essen bedrängt uns Sivan, gemeinsam die Sendung „Tatsachenbericht“ anzusehen, die sie zwar schon kennt, aber unbedingt mit uns teilen möchte. In der Sendung erzählen Angehörige des Obersts Asaf Hamami, Kommandeur der südlichen Division der Gaza-Brigade und der Oberstleutnant Alon Peled über ihren 7. Oktober. Die Spuren des Obersts Hamami verlieren sich irgendwann im Laufe des Horrormorgens, als er mit zwei Soldaten die Armeebasis für operative Aktivitäten verliess. Heute weiss man, dass die drei nicht mehr am Leben sind und ihre Leichname in Gaza festgehalten werden. Der sechsjährige Sohn des Obersts war an jenem schwarzen Samstag in der Armeebasis seines Vaters zu Besuch. Er wurde von einer Soldatin betreut, während sein Vater unvorhergesehen die Basis verlassen musste und nie mehr zurückkam.

Der Militärkollege von Asaf, Oberstleutnant Alon Peled verliess den Gaza-grenznahen Kibbutz, in welchem er lebt, frühmorgens am 7. Oktober in Richtung der Armeebasis. Er wurde bald darauf von Hamas-Terroristen verfolgt und gezielt niedergeschossen. Die Terroristen liessen von Alon ab, als er sich nach mehreren Schusswunden totstellte. Zum Glück hatte er im letzten Moment noch daran gedacht, die Dienstgradabzeichen ins Gebüsch zu werfen, sonst wäre bestimmt auch er nach Gaza verschleppt worden, lebend oder tot. Wie viele andere Verletzte lag auch er unzählige Stunden im Strassengraben, bis Hilfe kam.

Nach dem Tatsachenbericht hören wir uns einen längeren Kommentar des Journalisten Zvi Yehezkeli an, der aus seiner Sicht erläutert, warum die israelischen Verantwortlichen einen Angriff in den Ausmassen des 7. Oktobers nicht vorausgesehen haben und demzufolge auch bei der Aufgabe versagten, schnell einzugreifen und Schlimmeres zu verhindern. Den sehr aufschlussreichen Kommentar gibt es leider nur auf Hebräisch.

Natürlich fragen wir die Kinder auch nach dem Befinden von Yotam und der Familie von Nitzan.
Ganz kurz bringt jemand die Völkermord-Klage Südafrikas gegen Israel am Internationalen Gerichtshof in Den Haag zur Sprache. Die Klage ist so himmelschreiend absurd, dass wir nur ungläubig die Köpfe schütteln und das Thema umgehend zur Seite legen, ohne näher darauf einzugehen. Es tut mir wirklich leid für meine Kinder, dass sie nicht nur den schrecklichen Folgen des Terrorangriffes und des Krieges ausgesetzt sind, sondern auch mit der Tatsache leben müssen, von der Welt ungerecht behandelt und sogar gehasst zu werden, nur weil wir Israelis sind.

Und nein, es ist nicht, dass wir keine Augen dafür hätten, was in Gaza passiert. Aber die Verzerrung der Tatsachen, das Umkehren von Gut und Böse, das Ignorieren von Absichten, durch Politiker, die Medien und durch unsere Mitmenschen, ist so niederschmetternd, dass wir uns so wenig wie möglich damit beschäftigen, um einigermassen bei Verstand zu bleiben.

Einst war der 7. Oktober mein Hochzeitstag, jetzt steht dieses Datum für einen Horrortag mit infernalen Ausmassen. Unsere einst erholsamen Wochenenden mutieren zu familiären Zusammenkünften zur Traumaverarbeitung. Und mein Blog ist zu einer Ansammlung von schrecklichen Geschichten geworden.

Dienstag, 9. Januar 2024

Der blanke Horror

Kaum schreibe ich über Normalisierung, folgen die Katastrophen Schlag auf Schlag.

Am Montag werden wieder Dutzende Raketen aus dem Gazastreifen auf Israels Zentrum abgefeuert. Die Hamas zielt dabei absichtlich auf dicht besiedelte Gebiete, auf Städte, auf israelische Zivilisten. Hunderttausende Israelis müssen Schutz suchen. Zum Glück können die Raketen vom Abwehrsystem Iron Dome vernichtet werden, bevor sie grossen Schaden anrichten. Israel hingegen wird weiter zu "Mässigung" in Gaza aufgerufen. Es ist einfach unerhört.

An diesem Montag fallen neun israelische Soldaten. Die Meldungen mit ihren Namen und Bildern überschlagen sich. Viele weitere werden schwer verletzt, darunter Idan Amedi, der bekannte Sänger und Schauspieler, den viele aus der Serie "Fauda" kennen. Idan ist ein begabter Musiker, alle Israelis kennen und lieben seine Musik. Immer wieder gibt Idan Benefizkonzerte für Soldaten, während er selbst als Soldat der Reserve in einer Kampfeinheit dient. Sein Einsatz für die Soldaten wird von jedermann hoch geschätzt, vor allem aber von den Soldaten selbst. Der begabte 34-jährige ist ausserdem ein Meister der Kampfsportarten, er gewann 2005 den Titel des israelischen Vizemeisters im Taekwondo. Vor einigen Jahren hatte ich das Vergnügen, Idan an einem Vortrag sprechen zu hören und seither fühle ich eine besondere Verbindung zu dem sympathischen Mann. Idan ist verheiratet und Vater einer fünfjährigen Tochter.

Nach seinem früheren Militärdienst ist das Lied "Schmerz der Krieger" entstanden.



Der erste Abend allein,
Ich sitze da und schreibe dir einen Brief
Über all die Dinge, die waren
Über alles, was passiert ist

Buchstaben erscheinen an der Wand
Ich bin die Angst, es ist mir ein Vergnügen!
Die Figuren tanzen,
Bewegen sich hier im leeren, leeren Haus

Und du, du weisst nicht, wie viel
Ich versucht habe, zu verstecken
All die Albträume in der Nacht
Schreie und Blut auf der Uniform
Und du, du verstehst nicht mehr
Warum ich schon lange nicht mehr derselbe bin
Die Bilder dieser Nacht jagen sich
Tränen, Schmerz der Krieger

Es ist der erste Abend an dem du dort bist
Ich liege da und denke nach, kann nicht einschlafen
Die Stille spielt eine langsame Melodie
Ich widme dir ein Lied ohne Titel
Lied ohne Titel

Und du, du weisst nicht, wie viel...
Der erste Abend allein,
Ich sitze da und schreibe dir einen Brief

Ich bete für ein Wunder, damit Idan Amedi wieder gesund wird. Hamas – ihr nehmt uns unsere Kinder, Frauen und Alten. Hamas – ihr nehmt uns unsere schönsten jungen Männer und Frauen im Krieg. Bitte nehmt uns nicht Idan. Bitte nehmt uns nicht die Musik!

Ebenfalls an diesem Montag zirkulieren Aufnahmen der achtzehnjährigen Liri und der neunzehnjährigen Karina, Agam und Daniela durch die Medien. Die vier Mädchen sind am 7. Oktober von Hamas-Terroristen brutal misshandelt, verletzt und in den Gazastreifen verschleppt worden. Dort werden sie seit mehr als 90 Tagen festgehalten, ohne irgendeine Nachricht an die Eltern oder Angehörigen. Das von der Hamas veröffentlichte Video zeigt die blutverschmierten Gesichter der Mädchen. Der Schrecken, der ihnen ins Gesicht geschrieben steht, ist nicht einmal für Betrachter auszuhalten. Karina's Körper ist bis zum Hals mit einem schmutzigen, blutbefleckten Tuch bedeckt, wer weiss, was sich darunter versteckt. Bis sie am 7. Oktober verschleppt wurden, haben die Mädchen ihren Militärdienst in Nahal Oz absolviert, in einer ähnlichen Kontrollfunktion, die auch meine Tochter vor zwei Jahren noch ausgeübt hat. Ich kann mich gar nicht genug in die Arbeit oder andere Ablenkungen stürzen, man kann den Fotos und den Gedanken an die Mädchen nicht entkommen. Es ist der blanke Horror. Sie und alle Geiseln müssen endlich freigelassen werden!

Sonntag, 7. Januar 2024

Ach Israel


An den Arbeitstagen Sonntag bis Donnerstag gibt es im Büro viel zu tun und ich habe keine Zeit, mich mit dem Krieg zu befassen. Unterwegs höre ich kurz die Acht-Uhr-Nachrichten im Radio, dann stürze ich mich in meine Aufgaben. So vergehen die Tage. In der spärlichen Freizeit unternehme ich wieder zaghaft Ausflüge, und sei es nur in die nahe gelegene Shoppingmall. Ich war auch schon wieder in einem Restaurant essen, empfand den Besuch aber als sehr beklemmend und konnte den Anlass nicht geniessen. Neuerdings wage ich es auch wieder, an die Zukunft zu denken und über Urlaub zu fantasieren, obwohl die Möglichkeiten im Moment sehr eingeschränkt sind. Der Norden und der Süden Israels sind Kriegszone und das Angebot an Flügen ins Ausland ist weiterhin sehr beschränkt und teuer. Hier in Zentralisrael hat sich aber eine gewisse Normalisierung eingestellt, auch wenn diese auf äusserst wackligen Beinen steht.

Am Freitag wagen wir zum ersten Mal seit dem 7. Oktober einen Ausflug nach Tel-Aviv. Tel-Aviv war schon immer eine Parallelwelt, schon vor dem Krieg schien das Leben in dieser Stadt nach eigenen Gesetzen zu verlaufen. Jetzt, während dem Krieg, ist die Blase, in der sich Tel-Aviv befindet, noch viel auffälliger. Die Bewohner Tel-Avivs führen ihre Hunde Gassi, sitzen in den Cafés, machen mit Scootern und Fahrrädern die Strassen unsicher und erledigen, modisch, eigenwillig, oder einfach auffällig gekleidet, irgendwelche Besorgungen.

Wir treffen unsere älteren Kinder Sivan und Itay, die in Tel-Aviv leben und stürzen uns mit ihnen und Hunderten Gleichgesinnten in das Freitagsgetümmel am Carmel-Markt. Nach geduldigem Anstehen ergattern wir an einer der Marktbuden fantastische Fisch-Sandwiches, die wir etwas abseits des Rummels stehend geniessen. Wenn man ausser Acht lässt, dass viele Männer Sturmgewehre tragen, sieht das Leben in der Stadt auf den ersten Blick fast normal aus. Auch die grossen blutverschmierten Teddybären, die man als Mahnmale auf viele öffentliche Bänke gesetzt hat, und die Bilder der Geiseln, die an allen Ecken aushängen, sind zur neuen Normalität geworden. Sie lassen mich zwar jedes Mal zusammenzucken, aber wenn ich schnell wegsehe, ist es auszuhalten. Auf den "Platz der Entführten" vor dem Israel-Museum, wo sich die Angehörigen und Freunde der nach Gaza Verschleppten zusammenfinden, wage ich mich nicht.

Vom Shuk aus ziehen wir weiter durch den Künstlermarkt in der bezaubernden Nachalat Benjamin mit den alten, teils abbruchreifen Gebäuden. Wir bestaunen die fantastische Dachterrasse des faszinierenden Restaurants "The Prince". In einem der Kiosks des Florentinboulevard trinken wir zum Abschluss Kaffee, dann trennen sich unsere Wege.

Itay fährt mit dem Bus zu seinem Freund, der immer noch schwer verletzt im Spital liegt. Seit dem 14. Oktober verbringt Itay fast jeden Tag mehrere Stunden am Bett seines besten Freundes. Das ist im Moment sein hauptsächlicher Zeitvertreib, ausserdem sucht er irgendeine Arbeit, die sich mit seinem neuen Lebensinhalt vereinbaren lässt.

Sivan und ihr Freund fahren zur Siesta zurück in ihre Tel-Aviver Wohnung. Vor Einbruch des Sabbat wird Sivan Kerzen in Erinnerung an ihre ermordeten Freunde Nitzan und Lidor und an den gefallenen Roee anzünden, wie sie das jetzt jeden Freitag macht. Sivan dient seit Mitte Oktober immer noch als Reservesoldatin. Sie ist Ausbilderin von Sanitätern, verbringt im Moment ihre Tage aber hauptsächlich mit Warten. Alle Sanitäter der IDF scheinen ihr Wissen perfekt aufgefrischt zu haben und Sivan dient nur noch auf Abruf.

Lianne, unsere Jüngste, fährt mit uns nach Hause. Nachdem im Oktober der Schulunterricht einige Wochen ausgesetzt wurde, konnte sie mit etwas Verspätung doch noch eine Stelle als Schulbegleiterin eines Erstklässlers übernehmen. Auch sie lebt nun in einer neuen Realität, in der Freunde (ihre Freundin Shir) ermordet worden sind, an Israels Fronten ihr Leben riskieren (mehrere ihrer ehemaligen Klassenkameraden) oder als Geiseln der Hamas in Gaza festgehalten werden. Und in einer Realität, in der es gerade keine Zukunftsaussichten gibt. Ab und zu sehen wir in den Medien die Eltern ihres Freundes Omer, die verzweifelt auf die Rückkehr ihres schon seit drei Monaten in Gaza festgehaltenen Sohnes warten. In Tel-Aviv hängen, nebst Fotos der anderen Geiseln, einige Poster mit seinem Konterfei. Beim Anblick des bekannten Gesichtes fahren wir beide kurz zusammen, verdrängen es und leben unsere neue Routine weiter.



In Tel-Aviv, und auch in unserem Dorf etwas weiter nördlich, im Sharongebiet, merkt man nichts von den Hunderttausenden Israelis aus dem Süden und Norden des Landes, die evakuiert schon seit Monaten in Hotels und Behelfswohnungen in zentraleren Gebieten des Landes leben. Ganze Städte und Dörfer im Norden liegen leer. Im Süden sind sie gar zerstört und nun wächst nach den Winterregen bestimmt schon das Gras über die ausgebrannten Häuser und Gärten und die blutgetränkte Erde.

Über den Krieg in Gaza hören wir aus den Nachrichten und ab und zu von den eingezogenen Freunden der Kinder, wenn sie kurz auf Urlaub kommen. Die Raketenangriffe aus dem Süden sind endlich seltener geworden. Über die Silvesterböller, die am 31. Dezember pünktlich um Mitternacht erfolgten, mussten wir schon fast lachen – wenn es nicht so traurig wäre. An die täglichen Meldungen über gefallene Soldaten kann man sich nicht gewöhnen, aber auch sie scheinen zur traurigen Realität unseres Alltags zu werden.

Kürzlich habe ich in den Nachrichten gehört, dass auch in Hebron, im südlichen Westjordanland, unterirdische Hamastunnels freigelegt worden sind. Das, und anderes, meine ich, wenn ich schreibe, dass unser "neues Normal" auf wackligen Beinen steht. Wer weiss, wohin diese Tunnels im Kernland schon reichen – vielleicht bis unter unsere Füsse.

Im Norden wird die Situation stündlich brenzliger. Vorgestern haben einige Nationen begonnen, ihre nicht-libanesischen Bürger aus Beirut auszufliegen. Wir unsererseits räumen erneut den Schutzraum auf und frischen die Wasservorräte auf, die wir in den Tagen nach dem 7. Oktober bereitgestellt haben.

In den Medien lese ich über die Fortschritte Irans im Bau von Atombomben. Davor habe ich wirklich Angst. Eyal bagatellisiert die Bedrohung. Er winkt einfach ab und meint, dass ich mir darüber wirklich keine Sorgen machen müsse. Im Fall einer Atombombe würde der Tod so schnell erfolgen, dass ich nicht einmal etwas spüren würde. Doch das beruhigt mich nicht besonders, die Bilder von Nagasaki und Hiroshima sprechen eine andere Sprache.

Ich schlafe unruhig und beim Aufwachen wundere ich mich, dass der befürchtete Luftschutzalarm trotz Hunderten Geschossen aus dem Libanon bei uns bis anhin ausgeblieben ist.

Kurz vor sieben wird es schon hell und ich gehe laufen. Es ist ein wunderbar frischer Morgen nach einer regenreichen Nacht. Ich wage mich jetzt wieder aus unserem Dorf hinaus in das benachbarte Wäldchen und bin berauscht vom Duft der noch nassen Erdbeerfelder und der saftigen Fülle der Zitrusplantagen. Klementinen, Orangen und Grapefruits hängen in den regennassen Bäumen, wo ich nur hinsehe. Die letzten Kilometer bis nach Hause laufe ich mit einem kostbaren Strauss frisch gepflücktem wildem Spargel in der Hand und male mir dabei aus, was ich damit kochen werde. Wie ich diese Morgen liebe! Winter in Israel. Ach Israel!

Das ist nun unser neuer Alltag. Eine Routine auf dünnem Eis.