Samstag, 29. Dezember 2018

Feiertage


Die Weihnachts- und Neujahrstage gehen bei uns, erwartungsgemäss, sang- und klanglos vorbei. Kein Urlaub, kein Umherrennen, um Geschenke zu besorgen, kein Weihnachtsbaum, keine Silvesterparty. Arbeit, Alltag, die üblichen Verrichtungen, alles ganz unweihnachtlich. Kein Zeichen von Festlichkeit. In Haifa und anderen Orten, in denen Christen leben, soll es einige Feierlichkeiten geben, aber davon bekomme ich nichts mit, denn ich verbringe die Tage im Büro. Wenigstens geht es hier etwas ruhiger zu und her, denn auch unsere amerikanischen Arbeitskollegen sind im Feiertagsurlaub. Und ich? Zum Kaffee esse ich Weihnachtsgebäck, das ich per Post erhalten habe. Ich bringe Schokoladekläuse ins Büro und behänge damit die Topfpflanzen. Und in Gedanken verweile ich bei meiner Familie in der Schweiz.

Dass diese Tage hier so unbeachtet vorbeigehen, lässt mich nicht kalt. Einst konnte ich es sogar kaum ertragen. Unterdessen bin ich aber wohl schon einiges integrierter, oder einfach ernüchtert. Ich weiss, dass die meisten Feiernden in Europa Weihnachten nur als Pflichtprogramm angehen. Niemand hat so richtig Lust auf Familientreffen mit zu vielen Anwesenden, zu viel Lärm und zu viel Durcheinander. Die Kommerzialisierung des Festes finde ich abstossend. Und – die Geburt Jesu feiern? Zum Glück muss ich mich damit nicht auseinandersetzen. Ich hätte grösste Mühe, die traditionellen Festlichkeiten mitzufeiern oder gar meinen Kindern zu überliefern, ohne den tieferen Sinn zu hinterfragen. Und doch. Ganz gleichgültig werden mich diese Tage nie lassen. Denn Erinnerungen und Traditionen sind das, was in uns nie sterben kann.

Wenn ich an Weihnachten meiner Kindheit denke, erinnere ich mich an Tage des ungeduldigen Wartens auf das bezaubernde Fest. An Abende am Familientisch im Advent mit Kerzen, Liedern und Naschereien. An versteckte Geschenke im Kämmerchen, die wir durch das Schlüsselloch erspähen konnten. An nächtliche Schneeballschlachten auf dem Weg zur Weihnachtsmesse. An Schokolade, von welcher jede Nacht immer mehr vom geschmückten Baum verschwand, während der Dieb nie gefunden wurde. Auch Neujahr wurde immer gefeiert, und wenn es nur ein Rimuss war, den wir Kinder am Silvesterabend feierlich aus Sektgläsern trinken durften. Vor allem aber denke ich wehmütig an die klirrende Kälte, den Schnee und die ruhige, verzauberte Winterlandschaft.

Wer die „Heimat“ verlässt, wird auf Ewig als Entwurzelter zwischen zwei Welten leben. Das bedeutet auch, dass ich von beiden Welten das wählen kann, das mir zusagt. Unterdessen habe ich das viel beschaulichere und bescheidenere Chanukka lieben gelernt. Und doch vermisse ich etwas Unklares schmerzlichst, wobei mir ganz rationell bewusst ist, dass es sich wohl grösstenteils um Illusionen handelt. Illusionen einer Heimat. Sie werden nie verschwinden, auch wenn man nicht mehr an sie glaubt.

Mittwoch, 26. Dezember 2018

Unfall am Kinafluss

Empfangskomitee in der Wüste

Unter der Woche sind Eyal und ich oft rund um die Uhr viel zu beschäftigt, deshalb gehen wir die Wochenenden gerne etwas gemütlicher an. Wir tun möglichst einfach NICHTS und es kann schon vorkommen, dass sich die Kinder wundern, wieviele Stunden wir müssig auf dem Sofa ausharren, während sie kommen und gehen. Nur ab und zu, wenn ich mich selbst vor Langeweile nicht mehr riechen kann, treffen wir uns mit Freunden, gehen ins Kino oder unternehmen einen Ausflug oder eine Wanderung.

Hier lächelt Eyal noch nichtsahnend in die Kamera, während
der Gestürzte im Hintergrund schon am Boden liegt
Wie aufregend die Wanderung am Wochenende werden würde, das konnten wir nicht ahnen, als wir der Einladung von einigen wanderfreudigen Bekannten zusagten. Unser Ziel war eine Rundwanderung in der Judäa-Wüste. Die Route verläuft im trockenen Flussbett des Kinaflusses und steigt schon im ersten Drittel in eine schmale Schlucht hinab, in welche der Fluss – in der kurzen Zeit des Jahres, in welcher er Wasser führt – über eine schroffe Felswand stürzt. Als wir am am oberen Teil der Felswand eintrafen, war kurz vor uns schon eine grössere Wandergruppe dort angekommen und mir fiel auf, dass unter den herumstehenden Wanderern eine seltsame Unruhe herrschte und mehrere der Leiter aufgeregt in ihre Funkgeräte sprachen. Wir hielten uns aber nur sehr kurz auf, um die spektakuläre Schlucht im Hintergrund zu fotografieren. Dann begannen wir den Abstieg in die Schlucht. Nach wenigen Minuten hatten wir das untere Becken des Wasserfalles erreicht, in welchem sich auch in der trockenen Jahreszeit immer Wasser befindet. Aus einem erfrischenden Bad wurde aber nichts, denn bald entdeckten wir mit Grauen, dass am Rande des Beckens ein schwer verletzter Wanderer lag, der am ganzen Körper zitterte und lautstark stöhnte. Nach einem kurzen Wortwechsel mit anderen Wanderern kapierten wir schockiert das Unfassbare: der Mann, der zu der Gruppe gehörte, die wir eben überholt hatten, war offensichtlich wenige Minuten vorher die ganze etwa zwanzig Meter hohe Felswand hinuntergestürzt. Er hatte Glück im Unglück und war unten im Wasserbecken gelandet. Jemand hatte ihn herausgefischt und einige Herbeigeeilte leisteten erste Hilfe.

Wir entfernten uns und legten an einem der nächsten kleinen Wasserbecken eine Pause ein, versuchten uns von dem Schock zu erholen, kochten Kaffee und rätselten, wie der Verletzte wohl aus der Schlucht transportiert werden würde. Zu uns gesellten sich weitere Wanderer und eine Familie mit drei kleineren Kindern und einem Hund, die allesamt badeten.

Wasserbecken laden zum Baden ein
Bald sahen wir Rettungsleute in leuchtendorangen Shirts und grossen Rucksäcken emsig die Schlucht hinunterklettern. Wenige Minuten später tauchte auch schon die Ambulanz in Form eines grossen Rettungshelikopters über unseren Köpfen am Rande der Schlucht auf. Wenn wir aber bis vor Kurzem gedacht hatten, dass wir von hier aus gemütlich dem Rettungsspektakel beiwohnen könnten, wurde uns nun blitzschnell klar, dass die kommenden Minuten alles andere als beschaulich sein würden. Der Helikopter versuchte, sich dem Wasserbecken am schmalen Ende der Schlucht zu nähern und verursachte dabei einen ohrenbetäubenden Lärm. Sand und Kieselsteine peitschten uns ins Gesicht und schon flogen die ersten Mützen, Kleidungsstücke, Brillen und Rucksäcke durch die Luft. Augenblicklich stoben alle Wanderer davon und flüchteten in die entgegengesetzte Richtung, in den flächer werdenden Teil der Schlucht. Auch ich packte meinen Rucksack und kletterte eilig auf allen Vieren davon. Zurückblickend sah ich, dass Eyal der Familie half, die badenden Kinder aus dem Wasserbecken zu ziehen. Weitere Männer kümmerten sich um den grossen Hund, der vor Schreck erstarrt keinen Schritt mehr vor- oder rückwärts zu machen gewillt war. Ich nahm mich der grösseren beiden Kinder an, die nun zu mir gestossen waren, schnappte ihre Schuhe, Kleider und Rücksäcke und gemeinsam suchten wir Schutz hinter einem Felsvorsprung. Während unsere Eingeweide und Trommelfelle ob dem höllischen Lärm zu zerbersten drohten, konnten wir beobachten, wie zwei Männer und eine Bahre aus dem Helikopter abgeseilt wurden.


Dann drehte der Helikopter ab und flog einige Runden über der Schlucht, während – so nehme ich an, denn das entzog sich unseren Blicken – der Verletzte behandelt und auf der Bahre festgezurrt wurde. Diese Pause benutzten wir, um unsere in alle Richtungen davongestobenen Wanderkollegen wiederzufinden und dann die Wanderung weiterzuführen. Wie der Verletzte in den Helikopter hochgezogen wurde, sahen wir dann erst am Abend zuhause in den Nachrichten.

Die Wanderung legten wir noch wie geplant zurück, aber unsere Gedanken und Gespräche drehten sich den ganzen Tag nur um den unglücklich Gestürzten. So sorgfältig wie an diesem Samstag habe ich noch auf keiner Wanderung jeden einzelnen Schritt gewählt. Und nun bin ich wieder bereit für einige langweilige Wochenenden in der heimischen Stube.

Die Kamele scheren sich einen Deut um das ganze Spektakel

Donnerstag, 20. Dezember 2018

Regen


Wenn sie denken, dass der in den Sommermonaten in Europa ausgebliebene Regen irgendwo im Universum verdunstet wäre, dann täuschen sie sich. Er ist einfach geographisch umgezogen und ergiesst sich nun bei uns. Wie aus Kübeln. Das ist fantastisch. Wir können die Wassermassen gut gebrauchen. Schon ist alles grün. Es lebe der Klimawandel!

Samstag, 15. Dezember 2018

Guten Morgen!


Kurz vor sieben Uhr morgens laufe ich durch das morgensonnendurchflutete Porat. Porat ist ein verschlafenes Provinzkaff am Ende der Welt. Einige Bauernhöfe, Gewächshäuser, halbverrostete landwirtschaftliche Geräte, ein angebundener Esel, streunende Hunde. Das deutsche Äquivalent für Porat wäre wohl Hintertupfingen. Mein Gott, denke ich nun, während ich über die Dorfstrasse trabe, was hat ein halbwegs vernünftiger Mensch zu dieser frühen Morgenstunde in Hintertupfingen verloren? Bin ich eigentlich noch bei Trost? Ich habe laufend schon acht Kilometer hinter mir und ahne nun, dass ich wohl noch mindestens ebensoviele vor mir habe, um wieder nach Hause zurückzukehren. Nach Hintertupfingen bin ich geraten, weil ich kurz vor Vordertupfingen (hebr. Eyn Sarid) spontan eine unbekannte Abzweigung gewählt habe. Dann war die Gegend entlang den Erdbeerplantagen und Zitrushainen so verlockend, dass ich mich einfach vom Weg leiten liess. Während Laufen im israelischen Sommer eine Qual ist, weil man der Hitze zu keiner Tageszeit entkommen kann, ist es im Winter umso belebender. Besonders verfallen bin ich der Frische der frühen Morgenstunden. Der Himmel ist heute wolkenlos, als die Sonne um halb sieben aufgeht und der neue Tag anbricht. Kaum hat die Sonne den Horizont überstiegen, blendet sie schon in voller Kraft und verheisst einen fantastischen Tag. Trotzdem bleibt es angenehm kühl. Abgesehen von einigen oft kaum zu umgehenden Pfützen auf den Feldwegen  ein Überbleibsel vom letzten Regen  sind die Bedingungen zum Laufen ideal. Wie von selbst legen meine Füsse Kilometer um Kilometer zurück und als ich um acht Uhr wieder zuhause eintreffe, zeigt meine GPS-Uhr 17 Kilometer. Ja, ich bin nicht bei Trost und jetzt kann der Tag beginnen!

Dienstag, 4. Dezember 2018

Chanukka-Makrönchen

Santa in Jerusalem

Ich bin in der Schweiz aufgewachsen, lebe schon drei Jahrzehnte in Israel und spreche und schreibe fast perfekt hebräisch. Gerade deshalb weiss ich persönlich nur zu gut, wie komplex und vielschichtig die Problematik der Entwurzelung ist. So gibt es bei uns zum Beispiel am ersten Chanukka-Abend – während in allen herkömmlichen jüdischen Familien Kartoffellatkes gebraten werden – Raclette. Wenn Weihnachten und Chanukka zeitlich zusammenfallen, kann es vorkommen, dass unsere Chanukkia mit Christbaumschmuck dekoriert ist. An Pessach sind die Matzen viel erträglicher, wenn man sie grosszügig mit Osterhasenschokolade belegt. Und im Dezember kommt früher oder später immer die Lust auf Weihnachtsgebäck. Manchmal habe ich aber den Verdacht, dass dieses, seit ich zum Judentum konvertiert habe, nicht mehr so recht gelingen will. Die Chräbeli, die ich kurz vor Chanukka gebacken habe, sahen noch ganz vielversprechend aus. Bis sich herausstellte, dass sie nach dem Backen am Blech klebten und beim Abkratzen in Stücke zerfielen. 

Heute backe ich Mandel/Pistazien-Makronen (Betty Bossi!). Weil ich nicht allzuviel Zeit habe, besorge ich eigens zu diesem Zweck einen Spritzsack mit gezackter Tülle. Damit werde ich die Makrönchen in wenigen Minuten ruckzuck aufs Blech spritzen. Beim Aufschrauben der Tülle reisse ich aber noch vor dem ersten Gebrauch ein Loch in den Sack. Was nun? Lange starre ich fassunglos das Loch an. Aber ha! So schnell lasse ich mich nicht unterkriegen! Ich bastle einen Spritzsack mit der Tülle und einem herkömmlichen Plastikbeutel. Dabei sollte ich doch wirklich schon wissen, dass, wer Abkürzungen sucht, schlussendlich immer länger unterwegs ist. Wie erwartet, platzt der Makrönchenteig mit der Tülle aus dem improvisierten Beutel. Ich bin verzweifelt. Ich werde wohl nicht darum herumkommen, die Makrönchen einzeln in mühsamer Handarbeit zu formen. Zuerst versuche ich aber, den Teig möglichst ohne Verluste aus dem Plastikbeutel zu schaben. Bald sind viel zu viel Geschirr, meine Hose, fast die ganze Küche und meine Arme bis zu den Ellenbogen mit klebrigem Teig verschmiert. Entmutigt wasche ich mir die Hände. Vom Fenstersims flackern mir dabei mahnend die Flämmchen der Chanukkakerzen entgegen. Täusche ich mich oder flüstern sie „Versuch’s doch mal mit Sufganiot?“


Chanukkia = acht- oder neunarmiger Chanukkaleuchter
Chräbeli = Anisgebäck
Latkes = Kartoffelpuffer
Matzen = dünne ungesäuerte Brotfladen
Sufganiot = rundes Teiggebäck mit Konfitürenfüllung, das am jüdischen Chanukkafest gegessen wird

Mittwoch, 21. November 2018

Die Wüstenwanderung

Die zweitägige Negevwanderung war fantastisch. Die monumentale Wüstenlandschaft ist grandios und atemberaubend. Die Nomaden-Atmosphäre – stundenlanges Gehen, der Aufenthalt in der freien Natur, fernab von bewohnten Orten, das Staubig- und Schmutzigsein, das abendliche Lagerfeuer, einfachstes Essen und die fehlende Internet- und Telefonverbindung – begeisterte mich. Wir entdeckten einige Wasserlöcher, antike Brunnen, wilde Tiere, vorzeitliche Wandmalereien und konnten uns am einzigartigen Wüstenpanorama kaum sattsehen. Zuerst wanderten wir etwa 16 Kilometer auf relativ einfachem Terrain und am Ende des ersten Tages schloss ich schon beinahe etwas voreilige Schlüsse über die Wanderfähigkeit der Israelis. Am zweiten Tag legten wir aber noch etwas drauf, kraxelten tatsächlich einige steile Hügel hoch und hinunter und durchwanderten eine Schlucht, die so eng war, dass wir die Rucksäcke abnehmen und einige von uns den Bauch einziehen mussten. Die letzten Kilometer legten wir fast rennend in der Dunkelheit zurück, da wir wohl zu lange bei der Mittagspause verweilt hatten. Als wir nach einem vollen Wandertag erschöpft beim Bus eintraffen, hatte meine GPS-Uhr 21 gewanderte Kilometer gemessen.


Aber nicht alles war rosig: Die Übernachtung im Zelt war traumatisch. Mein Schlafsack wärmte nicht genug und ich fror erbärmlich. Die dünne Campingmatte fühlte sich steinhart an, so dass ich schon nach wenigen Stunden auf keiner Seite mehr liegen und mich aber auch nicht mehr drehen konnte. Als ich nachts einmal nach draussen musste, krabbelte ich auf allen Vieren aus dem Zelt, weil mich nebst stechenden Rückenschmerzen schreckliche Muskelkrämpfe zu Boden zwangen. Ich fühlte mich 150 Jahre alt und verfluchte die Schnapsidee, in diesem Alter noch solch abenteuerliche Unterfangen mitmachen zu wollen. Seltsamerweise schienen die erbärmlichen Umstände meinen Gatten überhaupt nicht zu stören und das Echo seiner Schnarchgeräusche hallte in der Dunkelheit in mannigfacher Lautstärke von den schroffen Wüstenfelsen. Nach einigen Tassen auf dem Feuer gebrühten schwarzen Kaffees am frühen Morgen erholte ich mich aber schnell von den Strapazen der Nacht und bald fühlte ich mich wieder frisch und voller Tatendrang. Schlaf wird meines Erachtens zutiefst überschätzt.

Übrigens weiss ich jetzt auch, wo sich die Toiletten befinden: Hinter der vierten Akazie von links in der zweiten Biegung des trockenen Flusslaufs.











Samstag, 10. November 2018

Es geht los!

Mit dem schweizerischen Volkssport Wandern haben die meisten Israelis nicht viel am Hut. Sie können nur schwer nachvollziehen, warum man Berge hoch- und hinunterkraxeln oder scheinbar sinn- und ziellos durch die Gegend marschieren soll, wenn man doch die Natur viel gemütlicher beim stundenlangen Grillen mit Freunden, in einem Geländefahrzeug oder allerhöchstens beim Spazierengehen geniessen kann. Wandern ist den meisten Israelis zu anstrengend, zu unspektakulär, zu bescheiden, zu unauffällig. Ausserdem ist es zum Wandern an mindestens acht Monaten im Jahr einfach zu heiss.

Dabei hat Israel im nördlichen Teil des Landes oder in der Negevwüste im Süden naturliebenden Aktivmenschen unheimlich viel zu bieten. Aber auf den Pfaden der vielen Naturparks tummeln sich meist nur Frauen in unpassenden Schuhen, Kinder in Flipflops und Männer, die noch immer von den immensen Märschen erschöpft sind, die sie während ihrem dreijährigen Militärdienst bewältigen mussten  auch wenn dieser schon zwanzig Jahre zurückliegt.

Israel ist ein kleines Land und die meisten Parks, Flüsse und Wäldchen sind mir dank zahlreichen Kindergarten- und Klassenreisen und später mit anderen Familien gemeinsam organisierten Ausflügen bekannt. Diese Exkursionen bestanden meist aus kurzen gemütlichen Spaziergängen und ausgiebigen Rastpausen, wobei man die Bedürfnisse der Kinder als Grund vorschob. Später folgten einige private und selbst organisierte Wanderungen, die ganz interessant aber eben nicht genug herausfordernd waren.

Ich persönlich bin, was sportliche Aktivitäten anbelangt, ein ziemlich ungeduldiges Wesen. Ich habe keine Geduld für Gefasel oder Herumsteherei. Deshalb schwor ich mir vor einigen Jahren, als ich zunehmend verärgert auf einem schmalen Pfädchen an einem lauschigen Bach zwischen einigen Dutzend Flanierern Schlange stehen musste, hiermit mit Gruppenwanderungen in Israel ein für allemal abgeschlossen zu haben. Ich fasste diesen Entschluss mit grosser Reue, denn ich bin gerne aktiv, ich liebe die Natur und beides zu verbinden scheint mir ein sehr befriedigender Zeitvertreib, vor allem jetzt, da ich keine kleinen Kinder mehr im Schlepptau habe.

Nach einer längeren Wanderabstinenzphase habe ich nun aber endlich wieder Hoffnung: ich habe einen Wanderleiter aufgespürt, der genau die vielversprechenden, herausfordernden Treks anbietet, von denen ich träume. Und, oh Wunder, der wanderfreudige israelische Abenteurer hat zur Hälfte Schweizer Wurzeln, muss also das Wandern in den Genen haben! Flugs habe ich uns also für zwei mehrtägige Wanderungen angemeldet, die nichts für Weicheier sind. Um mich anzumelden musste ich ein längeres Formular ausfüllen, auf welchem ich unter anderem darzulegen hatte, wie es um unsere körperliche Fitness steht. Leider erwies es sich am Anfang als etwas schwierig, nähere Angaben zu den geplanten Wanderungen in Erfahrung zu bringen. Die einzigen Informationen, die mir der Wanderleiter vor der Anmeldefrist schickte, waren Meldungen im Sinne von „Bin gerade am Everest-Abstieg, melde mich wenn unten“ oder „Befinde mich im Kaukasus, keine Verbindung“ und so weiter. Bis ich also in Erfahrung bringen konnte, dass für den ersten geplanten Trek zwei mehrstündige intensive Wanderungen mit Übernachtung im Schlafsack unter freiem Himmel in der Negevwüste auf dem Programm stehen, waren wir schon angemeldet.

Zum Zeitpunkt der Anmeldung noch recht mutig, schwand mein Unternehmungsgeist mit jeder SMS und Whatsapp-Meldung von J. aus dem Himalajagebirge, aus Tadschekistan und aus der Mongolei. Bin ich wirklich ausreichend fit und technisch bewandert, um bei so einem Unternehmen mitzuhalten? Ganz zu schweigen von meinem israelischen Gatten, für den trotz unzähliger gemeinsam verbrachten Jahren Wandern so unverständlich geblieben ist, wie Fondue für Chinesen. Bestimmt hatte der Gute beim Unterschreiben unseres Hochzeitsvertrages vor bald drei Jahrzehnten nicht die geringste Ahnung, dass dieser Wisch nicht nur ein Freibrief für lebenslangen Genuss von Schweizer Schokolade war, sondern dass er sich mit seiner Unterschrift soeben verpflichtet hatte, mit mir in ferner Zukunft auf Berge zu kraxeln. Aber eben: Mitgegangen, mitgehangen! Für den Trek wurde er mit angemeldet. Punkt. Dabei verbrachte ER ja nicht nur die obligatorischen drei, sondern sogar vier Jahre im Militärdienst und ist somit bis heute sehr marschmüde.

Nun sehen wir Beide dem nächsten Wochenende also mit recht mulmigem Gefühl entgegen, besorgen aber unterdessen die notwendige Wanderausrüstung: Schuhe, Schlafsäcke, Campingmatten, Rucksäcke, Stirnlampen, Powerfood, Picknickgeschirr und so weiter. Nun bin ich sogar stolze Inhaberin von einem Paar Wanderstöcken und mehr oder weniger bereit für das Abenteuer. Nur eine Frage beschäftigt mich noch etwas: wo befinden sich eigentlich bei einer zweitätigen Expedition fern der Zivilisation die Toiletten?

Samstag, 29. September 2018

Abenteuer über den Wolken

Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen, wusste einst schon Matthias Claudius. Von meiner Thailand-Reise gäbe es wahrlich viel zu erzählen. Dabei gilt Thailand ja eher als „Asien light“, denn es ist für Touristen sehr gut erschlossen. Für mich, die ich zum ersten mal nach Asien reise, ist es trotzdem sehr erstaunlich und beeindruckend, wie anders der asiatische Lebensstil ist. Wie abenteuerlich diese Reise werden würde, davon bekam ich schon bei unserem Air India Flug nach Bangkok über New Delhi einen Vorgeschmack.

Ein kurzer Blick ins Internet ergibt: Unzureichender Service, mangelhafte Technik, mieses Essen und stundenlange Verspätungen scheinen bei dieser Fluggesellschaft zur Tagesordnung zu gehören. Auch geplatzte Reifen, Notlandungen, betrunkene Piloten oder Ratten an Bord – all dies scheint bei Air India kaum jemanden zu erstaunen. Wir wählen die indische Fluggesellschaft für unseren Flug nach Bangkok aber trotzdem, denn die neue Flugroute über Saudiarabien verkürzt den Flug von Tel-Aviv nach New Delhi auf sensationelle sechs Stunden. Ausserdem ist der Flug verhältnismässig billig und wir sind gespannt auf das komfortable Langstreckenflugzeug, die Boeing 787.

Wenige Tage vor unserer Reise vernehmen wir aus den Nachrichten, dass ein Flug der Air India kurz nach dem Abheben wieder landen musste. Die Crew hatte vergessen, den Schalter zum Druckausgleich in der Kabine zu betätigen, worauf mehrere Passagiere aus Nase und Ohren zu bluten begannen und nach der Notlandung hospitalisiert werden mussten. Ich bin froh, dass dieser Vorfall einigermassen glimpflich abgelaufen ist und zuversichtlich, dass sich nach diesem Präzedenzfall bei den nächsten Flügen jeder einzelne Flugbegleiter bei Air India persönlich um den Schalter für den Druckausgleich kümmern wird.

Am Check-in Schalter erhalten wir drei Reisenden Sitzplätze in verschiedenen Reihen. Der Flug sei voll, versichert uns die Dame in Uniform, sie könne uns leider keine anderen Sitzplätze zuteilen.

Am Gate fallen mir die beiden Piloten auf – der eine mit dem traditionellen Turban und dem hochgezwirbelten Bart und Schnurrbart der Sikhs – die für mich eher wie Fabelwesen aus Tausendundeiner Nacht aussehen, als vertrauenerweckende Piloten. Man entschuldige meine fehlende politische Korrektheit.

Nachdem wir uns im Flugzeug diszipliniert auf unsere vorbestimmten Plätze setzen, stellen wir bald fest, dass die Sitzummern auf der Bordkarte nur eine gutgemeinte Empfehlung sind. Der indische Flugbegleiter geht äusserst locker auf die Wünsche der Passagiere ein und weist Sitzplätze nach seinem puren Gutdünken zu, noch bevor wir abheben. Jemand hat sich auf ihrem Sitz breitgemacht? Kein Problem, setzen sie sich doch einfach da hin, da ist gerade noch ein Platz frei. Sich nach den Nummern zu richten, scheint ihm völlig überflüssig und eigentlich hat er damit ja recht – schlussendlich würden ja wohl doch alle irgendwo Platz finden.

Als wir abheben, ist mir etwas mulmig zumute und ich überlege, bei welcher Flughöhe sich der Überdruck in der Kabine wohl bemerkbar machen würde.

Bald gleiten wir aber ruhig über den Wolken dahin und ich beruhige mich. Es scheint soweit alles in Ordnung zu sein. Wie erwartet hat das mit dem Druckausgleich diesmal reibungslos geklappt. Es fällt mir aber auf, dass die Crew ein sehr seltsames Verhältnis zu den Schaltern und Knöpfen im Flugzeug zu haben scheint: Das Licht geht mehrere Male zu nicht nachvollziehbaren Zeitpunkten an und wieder aus.

Das servierte Essen, für mich vegetarisch, besteht aus Reis, dazu gibt es Gemüse mit grüner Sauce (Curry) und Tofu mit roter Sauce (Curry) und ist höllisch scharf. In meinem Plastikbeutel mit Besteck stecken zwei Löffel und keine Gabel. Aber Verfehlungen, die die Flugsicherheit nicht beeinträchtigen, übersehe ich gerne grosszügig. Ich mag scharfes Essen und wenn man die Currysauce mit reichlich Reis konsumiert, ist sie essbar, wenn auch nach einigen Bissen meine Ohren dampfen und ich Schweissausbrüche habe. Auf die Nachspeise, süsse Griesskugeln in einer Sauce aus Zucker und Rosenwasser, verzichte ich nach einem vorsichtigen Probebiss.

Das Musikangebot beschränkt sich auf indische Musik, deshalb lese ich mein spannendes Buch ohne musikalische Untermalung. Der Flug verläuft angenehm ruhig, obwohl plötzlich das Licht angeht, nachdem sämtliche Reisenden eingenickt sind. Ich staune, aber eine Viertelstunde später geht das Licht genauso unerwartet wieder aus.

Eine gefühlte Ewigkeit später wundere ich mich, wie lange wir wohl schon unterwegs sind. Der Flug sollte ja nur sechs Stunden dauern. Ein Blick auf den Bildschirm vor mir ergibt: 37 Km bis zum Zielflughafen. Eyal und ich schauen uns staunend an. Siebenunddreissig Kilometer? Wir fliegen noch immer sehr hoch. Ob der Pilot wohl gerade seinen Turban neu richten muss und deshalb New Delhi verpasst hat? Einige Minuten später erfolgt aber die erwartete Durchsage, nur etwas dringender als wir uns das von anderen Flügen gewöhnt sind: „Wir landen in fünf Minuten. Bitte nehmen sie ihre Plätze ein, schnallen sich an und stellen sie die Lehnen gerade“. Darauf erfolgt eiliges Gewusel in der Kabine, alle Passagiere hasten auf ihre Plätze, die Flugbegleiter überprüfen in wenigen Sekunden, ob alles in Ordnung ist und ob die Passagiere angeschnallt sind. Meine Lehne steckt fest und lässt sich nicht gerade richten, aber dafür hat jetzt niemand Zeit. Pech gehabt! Kurz vor der Landung stürmt noch ein Passagier aus der Toilette und schafft es gerade noch, sich hinzusetzen, als wir tatsächlich nach wenigen Minuten landen. Erstaunlicherweise herrscht während der Landung vollkommene Dunkelheit in der Kabine und das Licht wird auch nicht eingeschaltet, als die Maschine schon zum Gate rollt. Erst als das Flugzeug vollständig zum Stehen kommt, atme ich auf.

Bis zu unserem Anschlussflug verbringen wir eine Stunde auf dem Flughafen von New Delhi, der sich grosse Mühe gibt, möglichst international zu erscheinen, was aber nur begrenzt erfolgreich ist. Im Fastfood-Bereich staunen wir bei McDonalds über die Hamburger aus Hühnerfleisch, da die Inder ja kein Rind essen. Wir schaffen es, einen Kaffee zu finden, der nicht allzusehr nach Curry schmeckt und suchen vor dem Weiterflug noch die Toiletten auf. Zum Glück sind diese mit WC-Schüsseln ausgestattet, das ist hier nicht selbstverständlich, aber ungewohnterweise bedient eine freundliche Dame beim Händewaschen für mich den Seifenspender und reicht mir zum Abtrocknen das Papier.

Dann geht es weiter zum nächsten exotischen Abenteuer: Flug New Delhi-Bangkok.

Dieser schmackhafte Imbiss wurde uns bei Bangkok Air serviert

Samstag, 8. September 2018

Nass

„Sieben Prozent Regenwahrscheinlichkeit“, prophezeit der Gatte am Vorabend, während er die WetterApp konsultiert und schaut mich dann mit dem da-wirst-du-doch-nicht-etwa-laufen-gehen Blick an.
Aber mich schreckt Regen nicht ab, schon gar nicht sieben Prozent. Nach drei Jahrzehnten in Israel bin auch ich, was das Wetter anbetrifft, völlig integriert: ich liebe den Winter mehr als den Sommer und freue mich über Regen und Wolken, oder wenigstens frischen Wind. Nur bitte keine Sonne!
Das ist nicht erstaunlich, denn die Sommermonate sind in Israel klimamässig die Hölle: es ist so tropisch heiss und feucht, dass ich die Tage von Klimaanlage zu Klimaanlage plane. Wenn ich tagsüber vor die Türe trete, erschlägt mich die Hitze. Auch nachts sinken die Temperaturen nicht unter 25 Grad und schon am frühen Morgen kleben mir die Kleider am Leib. Monatelang, ununterbrochen.
Als passionierte Läuferin habe ich meine Läufe während den Sommermonaten aufs Minimalste reduziert und in die frühesten Morgenstunden verlegt, denn sobald die Sonne aufgeht, brennt sie erbarmungslos herunter. Wolken oder gar Regen bleiben monatelang aus. Der Himmel erscheint wochenlang gleichbleibend langweilig sandbeige.

Nicht so heute morgen. Es ist noch dunkel, als ich zu laufen anfange – aber die Wolken sind nicht zu übersehen. Nach wenigen Minuten fängt es sanft zu tröpfeln an. Wie belebend! Ich trage nur eine kurze Laufhose und ein Top und die erfrischenden Tropfen kühlen mich angenehm ab. Spontan schlage ich heute die längere Route ein. Die ersten paar Kilometer lege ich in ununterbrochenem leichtem Regen zurück. Die zwischen den dunkelgrauen Wolken aufgehende Sonne bietet heute ein besonders spektakuläres und ungewohntes Schauspiel. Jetzt wird der Regen stärker, die Tropfen grösser und bald folgt ein regelrechter Wolkenbruch. Der unvergleichlich frische Geruch von Regen steigt aus den sonst staubigen Wegen und Feldern. Meine Laufkleider sind umgehend triefend nass, die Schuhe werden schwer. Anstelle des gewohnten salzigen Schweisses rinnt mir süsses Regenwasser über das Gesicht und in den Mund. Mein Haar trieft und das Wasser rinnt an Armen und Beinen herunter. Das sind nicht sieben, sondern hundert Prozent Regen – aber jetzt gibt es kein Zurück! Ich laufe weiter und bin verzückt und berauscht von dem sinnlichen Erlebnis. Die grauen Wolken spiegeln sich auf den nassen Strassen. Der mir ins Gesicht prasselnde Regen verschafft mir ungekannte Energien, ich fühle mich um Jahrzehnte jünger und lache beim Laufen vor mich hin. Auch die LäuferInnen, die mir entgegenkommen – und das sind wie immer am Samstagmorgen viele – lachen alle wie kleine Kinder. Es ist warm, ich bin pudelnass und dieser Lauf ist Genuss pur.

 

In ein paar Tagen fliege ich mit der Familie in den Urlaub nach Thailand. Thailand ist nicht gerade meine Traumdestination, aber leider bestimme ich nicht alles in dieser Familie.
Bis am Donnerstag muss noch so vieles vorbereitet werden. Die Koffer hervorräumen, Packen, Planen, Tickets und Hotelvoucher ausdrucken. Bis Ende Woche alle Wäsche gewaschen haben. Im Büro möglichst nichts unfertig liegenlassen. Nägel lackieren, Beine enthaaren. Ein Katzensitter muss her, der Kühlschrank leergeräumt werden, der Rasen gemäht. Und wie ich wohl mit den langen Flüge, dem Jetlag, dem ungewohnten Essen und Klima in Asien zurechtkommen werde?
Wie unzählige weitere Verrückte jetten auch wir von hier nach dort, nach Paris, London und Barcelona, nach Marokko, Kuba und Kanada, auf der Jagd nach Abenteuern. Um etwas Aufregung und einige lustvolle Erlebnisse zu erhaschen. Um für kurze Zeit aus dem eintönigen Alltag auszubrechen.



Als ich mich nach eineinhalb Stunden im Regen wieder meinem Wohnort nähere, lege ich heute noch eine Ehrenrunde drauf. Ich springe, durchnässt bis auf die Haut im warmen Regen lachend von Pfütze zu Pfütze. Sind das nicht die wahren Abenteuer?

Donnerstag, 2. August 2018

Auf Schritt und Tritt verfolgt

Vor etwas mehr als zwei Jahrzehnten sah mein Leben noch sehr anders aus. Ich war nicht verheiratet und hatte keine Kinder. Alles drehte sich mehr oder weniger um mich selbst, ich stand im Zentrum meines Universums. Dann beschloss ich – aus heute schwer nachvollziehbaren Gründen – Kinder zu bekommen. Es wurden deren drei und natürlich änderte sich mein Leben schlagartig. Ab sofort war ich nur noch für andere da und musste meine Wünsche und Bedürfnisse hinten anstellen. Aber die Jahre vergingen wie im Flug. Viele verzweifelte Momente, einige schlimme Schreckmomente und sehr viele Glücksmomente später habe ich fast wieder den Ausgangszustand von vor 23 Jahren erreicht. Ich habe diese Woche sturmfreie Bude!

Jetzt trete ich am späten Nachmittag aus dem Büro und überlege zuerst einmal, wonach mir heute der Kopf steht. Ich muss niemanden bemuttern, niemanden umsorgen, niemanden bekochen, niemanden irgendwo hin fahren, niemandem zuhören. Niemand wartet auf mich. Natürlich gibt es da noch den Gatten, aber der ist ja schon erwachsen genug, um sich um sich selbst zu kümmern (sollte man denken). Ich kann in einem Café sitzen und Freundinnen treffen oder am Strand den Sonnenuntergang bestaunen. Ich kann mich ins Auto setzen und einfach ziellos irgendwo hinfahren. Ich kann mit den Klängen von "The Dark Side of the Moon" zuhause die Lautsprecher zum Zittern bringen und dazu splitternackt durch die Stube tanzen, ohne dass jemand denkt, die alte Schrulle hätte eine Schraube locker. Ich kann... Ich kann endlich wieder einfach ICH sein.

Unsere älteren Kinder sind schon länger und öfter nicht mehr zuhause. In diesen Tagen ist auch Lianne, die Sechzehnjährige, für eine Woche verreist. Sie ist zum ersten Mal ohne erwachsene Begleitung in den Urlaub gefahren. Nach Eilat, dem Touristen-Mekka Israels, zusammen mit zehn Freundinnen. Eine ganze Woche kann sie nun dort über die Stränge schlagen, tun und lassen, wonach sie gerade Lust hat, und vor allem, Unabhängigkeit und Selbständigkeit erfahren. Bestimmt geniesst sie das genau so wie ich.

Soweit wäre also alles fantastisch.

Hätte nicht eine der Mütter die hirnverbrannte Idee gehabt, eine WhatsApp-Gruppe ins Leben zu rufen, noch bevor die Mädchen abgefahren waren. Ohne um meine Meinung gefragt zu werden und bevor ich mich versah, war ich Mitglied dieser Gruppe, zusammen mit zehn anderen Müttern und allen elf Mädchen. Natürlich verlasse ich die Gruppe nicht, ich will die anderen Mütter ja nicht vor den Kopf stossen. Ich möchte auch nicht die einzige sein, die nichts davon weiss, wenn – ja, wenn was? Wenn vielleicht das grosse grüne Krümelmonster die elf Mädchen in einer Nacht- und Nebelaktion entführen sollte? Oder so ähnlich?

Kaum ist die WhatsApp-Gruppe entstanden, folgen die Nachrichten im Minutentakt, der Nachrichtenstrom reisst gar nicht mehr ab: Seid ihr schon im Bus? Seid ihr schon angekommen? Ist alles in Ordnung? Habt ihr die Zimmer schon erhalten? Sonnencrème eingestrichen? Die Lichter gelöscht? Trinkt ihr genug? Und so weiter, sorgen sich die Helikoptermütter rund um die Uhr. Anstatt Selbständigkeit hat jetzt jedes der Mädchen elf besorgte Glucken am Hals.

Arme Kinder. Wäre ich eines der Mädchen, würde ich mein Mobiltelefon in hohem Bogen aus dem Fenster werfen und dann so richtig auf den Putz hauen.

Ich selbst lernte vor vielen Jahren als junge Frau in Eilat einen netten jungen Mann kennen. Hätten mich meine Eltern damals auf Schritt und Tritt per WhatsApp verfolgt, wäre vielleicht aus diesem romantischen Treffen, mit welchem die ganze Geschichte hier ihren Anfang genommen hat, nie etwas geworden.

Donnerstag, 26. Juli 2018

Lippenkorrektur

Gestern war ich beim Zahnarzt, um ein Loch in einem Zahn flicken zu lassen. Es handelte sich um den Zahn neben dem Eckzahn (Zahn 24, wer es genau wissen will) und der Arzt spritzte mir eine recht grosszügig bemessene Portion Betäubungsmittel. Er musste sich verrechnet oder vergriffen haben, das machte sich schon bald nach der Spritze bemerkbar: Das Mittel lähmte nicht nur meine linke Mundhälfte, sondern setzte auch das linke Nasenloch ausser Gefecht und bald darauf verabschiedete sich mein linkes Auge.

Zwei Stunden später war der Zahn schon lange geflickt, aber meine linke Gesichtshälfte immer noch reichlich taub. Die Nase und das Auge hatten zwar ihre Funktion weitgehend wieder aufgenommen, aber beim Essen biss ich mir aus Versehen mehrere Male kräftig in die gefühllose Wange, im Bereich der linken Lippe. Nachdem ich mich etwa drei- bis viermal kräftig gebissen hatte, verzichtete ich frustriert auf die Resten im Teller und ging mit einer Menge schmerzender Wunden im Mund schlafen.

Am Morgen überraschte mich mein Spiegelbild mit einer geschwollenen Lippenhälfte, als hätte ich mir die Lippe aufspritzen lassen. Die Geschwulst glättete gleichzeitig auch all die unerwünschten Oberlippenfalten auf wunderbare Weise und das Resultat war eine attraktive volle und sinnliche Lippe. Ich staunte – das sah fantastisch aus! Von so einer Lippe hatte ich Schmallipper ein Leben lang geträumt. Wo die Oberlippe sonst schmal und faltig war, präsentierte sie sich nun prall und glatt – ich konnte gar nicht mehr wegsehen. Besser hätte das auch der erfahrenste plastische Chirurg nicht hingekriegt.

Meine Tochter hingegen hatte hemmungslos nur kritische Bemerkungen für mich übrig. Sie fand, dass meine RECHTE Mundhälfte nun noch viel verkümmerter und runzliger daherkam. Nach einem wiederholten Blick in den Spiegel musste ich ihr leider recht geben. Geblendet vom erotischen Look meiner (halben) Lippe hatte ich ausser Acht gelassen, dass die rechte Lippenhälfte – von der Linken in die Ecke gedrängt – kaum noch vorhanden war. So sind eben die Blickwinkel verschieden, je nachdem, ob man 16 oder 54 Jahre alt ist. Aber nun konnte auch ich nicht mehr übersehen, dass die aus der linken Hälfte verschwundenen Falten in den rechten Mundwinkel umgezogen waren und sich dort sogar um das Mannigfache vervielfacht hatten. Jetzt hatte ich links die verführerische Lippe einer Sechzehnjährigen und rechts die einer 92-Jährigen – was ja im Durchschnitt zwar wieder 54 ergibt, aber im Grossen und Ganzen doch recht gewöhnungsbedürftig aussah.

Nachdem ich nun eine Zeit lang wenigstens eine perfekte halbe Lippe mein Eigen nennen durfte, spiele ich mit dem Gedanken, in Zukunft eine Lippen-Aufspritzung in Erwägung zu ziehen. Unterdessen verbleibe ich aber vorerst in der Hoffnung, dass mein Mund bald wieder seinen mehr oder weniger symmetrischen Ausgangszustand erreichen wird.

Dienstag, 24. Juli 2018

Aus den Medien

Dies soll kein Israelblog sein, aber die einseitige und verlogene Israel-Berichterstattung in Europa beschäftigt mich täglich. Die Dämonisierung Israels in den Medien ist für uns Israelis deprimierend und frustrierend. Abgesehen von der üblichen meist absurden Verdrehung der Tatsachen ist auch das Weglassen von Informationen ein System, Israel schlecht darzustellen.

Umso mehr freut es mich, ab und zu auf interessante, gute und richtige Artikel zu stossen, die die facettenreiche Gesellschaft Israels zum Thema haben und die komplexe Situation erahnen lassen, mit der sich Israel innenpolitisch permanent mehr oder weniger erfolgreich auseinandersetzt.

Bitte lesen!

Mittwoch, 18. Juli 2018

Die Donaukniezwetschgenwähe

Am Donauknie
Die Zwetschge ist eine typisch europäische Frucht, die vor allem in Osteuropa weit verbreitet ist und die ich in meiner Kindheit in der Schweiz gerne und oft gegessen habe. Israelisches Klima hingegen mögen die Zwetschgen nicht besonders und daher ist die Saison für diese Frucht bei uns sehr kurz. Auch die Aprikosen sind in Israel nicht heimisch und tauchen nur kurzfristig auf den Märkten auf. Anfangs Sommer kann man jeweils während etwa zwei bis drei Wochen Zwetschgen und Aprikosen im Angebot finden. Dieses Jahr habe ich in den Läden bis jetzt – Mitte Juli – noch keine einzige Zwetschge und nur sehr kümmerliche Aprikosen entdeckt. 

Was soll man machen, dass ich auch nach dreissig Jahren in Israel immer noch eher der Zwetschgen- und Aprikosen-Typ bin und mir die hier heimischen Früchte, wie zum Beispiel die Annona, die Kaktusfrucht Sabre, Granatäpfel oder Wollmispeln, nicht besonders munden. Der starke Geruch der Guave ist mir sogar bis zum Brechreiz zuwider. Natürlich gibt es einige Ausnahmen: Ich liebe Litschi, die hier im Sommer gedeihen und Mango, Passionsfrucht und Klementinen, die ich alle sogar im eigenen Garten ernten kann. Auch die süssen Maulbeeren behagen mir und die Surinam-Kirsche, die ebenfalls in meinem Garten wächst, ist eine sehr schmackhafte und aromatische exotische Geschmacksbombe. Aber wenn ich auch Litschi oder Passionsfrüchte gerne vertilge, bleiben die Zwetschgen oder Aprikosen doch besondere „Heimwehfrüchte“, die nicht nur meinen Magen befriedigen, sondern auch die Seele berühren.

Das vergangene Wochenende verbrachte ich in Budapest. Nun weiss ich, dass Budapest eine interessante und eindrückliche Stadt ist, leider aber im Sommer sehr heiss und trotz Lärm und Abgasgestank von Touristenschwärmen überschwemmt.

Natürlich freute ich mich besonders, in den Supermärkten und bei den Früchtehändlern reife und sehr aromatische Aprikosen und Zwetschgen zu finden. Für Gulasch war es eh zu heiss, und so schlug ich mir den Bauch bis zum Platzen mit den geliebten Steinfrüchten voll, wohl wissend, dass mir dieses Vergnügen in Israel nicht mehr vergönnt sein würde. Ich kaufte und ass soviele Zwetschgen, dass ich nun sogar das ungarische Wort für Zwetschge, nämlich ‚Szilva‘ kenne – und Ungarisch ist wahrlich keine leicht aufzufassende Sprache.

Nach drei Tagen in Buda und Pest flüchteten wir aus der stickigheissen Stadt und fuhren mit einem Mietwagen in Richtung Norden. Hier war es gefühlte zehn Grad kühler und die hügelige Landschaft am Donauknie ist imposant. Wir bestiegen die Burg Visegrád, von welcher wir die beeindruckende Aussicht auf die Umgebung bestaunten. Ich badete meine Füsse in der Donau und freute mich wie ein Kind, dass es noch Dinge gibt, die ich „zum ersten Mal“ erlebe.

Im Dörfchen Visegrád kaufte ich im Dorfladen für etwa zwei Euro zwei Kilo Zwetschgen. Diese würde ich mit dem geplanten Nachtflug persönlich nach Israel bringen, um noch möglichst lange von der heiss begehrten Frucht und von unseren Urlaubserlebnissen zu zehren. 


Zurück in Israel erwarteten uns drückend heisse Temperaturen, wie immer. Der Nachrichtensprecher verkündete tatsächlich das Wetter in den Morgennachrichten wortwörtlich mit „heiss, feucht und einfach unerträglich“.

Die weitgereisten Zwetschgen sind unbehelligt in Israel angekommen und einen halben Tag später habe ich eine schmackhafte und saftige Zwetschgenwähe auf dem Tisch. Eine Wähe ist für Israelis eine schwer einzuordnende Speise, nicht süss genug für einen Kuchen und zu süss für ein Abendessen. Darum schere ich mich aber ausnahmsweise keinen Deut. Zum Abendessen lasse ich mir die Donaukniezwetschgenwähe schmecken – und geniesse dabei die Aussicht auf den Mangobaum im Garten.

Mittwoch, 11. Juli 2018

Augenbrauen-Styling mit Zugabe


In Israel ist Vieles kompliziert. Vielleicht werden gerade deswegen soziale Kontakte meist sehr offen und unkompliziert gehandhabt.

Meine Tochter und ich haben heute um 21:30 Uhr einen Doppel-Termin zum Augenbrauen-Styling. Die Kosmetikerin meiner Wahl ist eine junge alleinerziehende Frau, die an einen offensichtlichen Nichtsnutz von Mann geraten ist und nun mit ihren Kindern nach der Scheidung bei den Eltern lebt. Dort führt sie gemeinsam mit ihrer Mutter ein kleines Kosmetikstudio. Ab und zu lasse ich mir von Shelly die Brauen richten. Shelly, die junge Kosmetikerin, hat dabei eine unvergleichlich sichere Hand. Deshalb sehe ich darüber hinweg, dass sie mir während der Behandlung ganz ungehemmt den Kopf mit ihren Problemen vollquatscht. Ausserdem wohnt sie nur fünf Gehminuten von mir entfernt, sie arbeitet hart, verdient wenig und ich gönne ihr diesen Verdienst, auf welchen sie angewiesen ist.

Unser Termin heute Abend ist auf eine Stunde angesetzt, zu welcher in unserem Haus jeweils schon ruhig der Tag ausklingt und wir schläfrig vor dem Flimmerkasten hängen. Shelly wird aber erst frei, nachdem ihre Jungs in den Betten sind. Heute schreibt mir Shelly per WhatsApp kurz vor dem Termin, dass wir schon um neun Uhr kommen können. Fantastisch, das scheint ja bestens geklappt zu haben mit dem Zubettgehen! Ich freue mich, denn je später die Stunde, desto schwieriger wird es für mich, mich vom Sofa aufzuraffen. Nach schweizerischer Art treffen wir genau um 21:00 Uhr bei Shelly ein. Im Vorgarten sitzen der Vater und der Nachbar bei einem Bier und passen auf die Jungs auf, die noch herumtoben. Mit Schlafengehen war das heute wohl nichts.

Im Studio lackiert Shellys Mutter die Nägel einer Kundin, deren Tochter probiert unterdessen die verschiedenen Nagellacke aus. Ich suche Shelly und finde sie in der Küche. Sie muss nur noch schnell das Geschirr vom Abendessen wegräumen, sie komme in zwei Minuten. Kein Problem, Lianne und ich begeben uns ins zweite Zimmer des Studios und bestaunen die verschiedenen Geräte. Dann kommt Shelly und macht sich sogleich mit sicherer Hand an Liannes wuchernde Brauen. Wie erwartet, arbeitet gleichzeitig auch ihr Mundwerk und bald wissen wir bestens Bescheid über die Probleme mit den Kindern, den Stuss mit dem Ex und den Trubel mit den Kundinnen. Durch die Öffnung zum Nebenzimmer, welche nur durch einen Vorhang verdeckt ist, hören wir die Unterhaltung der Mutter und ihrer Kundin. Von draussen dringen die Schreie der spielenden Kinder herein. Shelly arbeitet flink und sicher, dabei stört sie auch das Handy nicht, welches sie nun unter ihre Wange geklemmt hat, um mit einer Freundin die für den Freitag geplante Kindergeburtstagsfeier zu besprechen. Als Shelly aus dem Gespräch im benachbarten Zimmer etwas aufschnappt, mit dem sie nicht einverstanden ist, mischt sie sich lautstark ein und schon entwickelt sich ein hitziger Streit mit der Mutter im Nebenzimmer – über die Köpfe der Kundinnen hinweg.

Die lebhaften Diskussionen tun Shellys Arbeit keinen Abbruch. Bald sind Liannes Brauen perfekt gestylt. Mir brummt von diesem Wespennest schon der Schädel, aber jetzt bin ich dran. Lianne setzt sich unterdessen auf einen Stuhl und wartet. Im Nebenzimmer trifft neue Kundschaft ein. Hier wird bis spät in die Nacht hinein gearbeitet.

Weil Shelly immer auf Trab ist und keine Zeit dazu hat, bittet sie Lianne, an ihrer Stelle einige WhatsApp-Nachrichten auf ihrem Handy zu schreiben. Kein Problem, das macht Lianne gerne und während Shelly meine Brauen in Form zupft, diktiert sie Lianne Antworten auf die neuen Meldungen der letzten Stunden: Eine Freundin soll noch einen Geburtstagskuchen backen, eine andere muss Einweggeschirr organisieren. Die Kindergärterin wird angewiesen, dass einer der Jungen morgen einen Termin in einer Klinik hat und deshalb vom Unterricht fernbleiben wird. Undsoweiter. Es gibt viel zu organisieren mit drei kleinen Kindern, einer Geburtstagsparty, Dutzenden von Kundinnen und einem Ex, der nur zur Last fällt.

Dann sind die Nachrichten an den Ex dran, der offensichtlich die Aufgabe hat, den Jungen morgen in die Klinik zu begleiten. Jetzt geht es ans Eingemachte, die Meldungen folgen im Schlagabtausch. Die Beiden gehen nicht gerade zimperlich miteinander um. Shelly diktiert und Lianne schreibt sich in Rage. Ich mache mir ernsthafte Sorgen um meine Brauen. Dann gibt Shelly in genauem Diktat Ort und Uhrzeit des morgigen Termins an.

„Morgen?“ versichert sich der Ex.
„Ja natürlich“ schreibt Shelly/Lianne, „davon rede ich doch schon seit Wochen.“
„Und wo genau ist diese Abteilung in der Klinik?“ tippt der Nichtsnutz-Ex umgehend zurück.
„Keine Ahnung“ diktiert Shelly über meine Brauen hinweg und Liannes Finger fliegen flink über die Tasten, „frag doch einfach nach“.
„Und stell dich nicht so dumm an!“ schiebt Lianne noch verärgert hinterher – frei improvisiert!

Damit ist die Diskussion und auch die Arbeit an meinen Gesichtshärchen abgeschlossen. Kurz nach zehn verlassen wird das Studio und bahnen uns einen Weg nach draussen, durch wartende Kundinnen, biertrinkende Männer und eine Horde trampolinhüpfender Kinder im Vorgarten.

Ein Blick in den Spiegel zuhause ergibt perfekt und sauber gestyle Brauen – wie immer!

Donnerstag, 5. Juli 2018

Neuigkeiten aus dem Erdbebengebiet

Wer hätte gedacht, dass mein Sohn aus seiner Vorliebe für Videospiele während der Schulzeit doch noch Nutzen ziehen könnte. Er zockte damals stundenlang, während sich seine schulischen Leistungen stetig verschlechterten – und ich darüber verzweifelte. Diese Zeit ist zum Glück vorbei, den Abschluss schaffte er irgendwie dann doch noch.

Jetzt fährt er als Soldat der IDF in den Golanhöhen an der Grenze zu Syrien ein „Katlanit“. „Das ist wie eine Videokonsole, einfach im klimatisierten Fahrzeug“, erklärte er mir. Kein Wunder schnitt er in dieser Ausbildung als Kursbester ab!

Itay wird nach bald zwei Jahren Ausbildung (er ist auch noch Sanitäter seiner Truppe) und intensiven Übungen nun vorerst in den Golanhöhen stationiert sein, wo er und seine Truppe ein Teilstück der Grenze sichern. Die Situation in der Region ist leider alles andere als rosig.

Wie es sich abzeichnet, könnte die „Lösung“ für die vertrackte Situation aber bald ein kräftiges Erdbeben sein. In den letzten vierundzwanzig Stunden gab es einen ganzen Schwarm davon, mit Epizentrum im See Genezareth. Laut den Aussagen von Geophysikern könnten diese Beben Anzeichen für eine Erdbebenkatastrophe sein, die den ganzen Nahen Osten in Schutt und Asche legen würde. Bis es soweit ist, machen wir aber einfach weiter wie gehabt: sinnloser Krieg im Norden und im Süden.

Üblicherweise sollten Itays Patrouillen-Schichten an der syrischen Grenze zwölf Stunden dauern. Das finde ich erstaunlich lange. Die erste Patrouille musste jedoch nach zwei Stunden abgebrochen werden – die Klimaanlage im HighTech-Fahrzeug war ausgefallen! (Tja, auch das israelische Militär hat Schwachstellen...)

Ebenso fällt unser für das kommende Wochenende geplante Golanhöhen-Ausflug aus. Itay soll gerade am Samstag von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends eingesetzt werden und kann sich für unseren Besuch nicht frei machen. Nun, daran ist nichts zu rütteln, das israelische Militär ist schliesslich kein Kindergarten. Da kann ich nur hoffen, dass die Klimaanlage perfekt funktionieren wird – und dass Assad, Rouhani, Putin und Konsorten hier nicht mitlesen!

Sonntag, 24. Juni 2018

Wenn einer eine Reise tut...

Ganz abgesehen von den Sorgen, die ich mir fast ununterbrochen um sie mache, bewundere ich meine Tochter für ihre Waghalsigkeit und ihre Abenteuerlust. Die Fotos und Berichte, die mich aus Indien erreichen, wecken auch bei mir Fernweh und Reiselust. Indien ist aber doch arg weit weg und,  gelinde gesagt, sehr exotisch. Ich habe keine Lust auf lange Flugstunden, tropische Hitze, (noch mehr) Kakerlaken, Impfungen und Visa-Formalitäten und beschliesse, meine Lust auf ferne Länder mit einem Abend in Tel-Aviv zu stillen.

Der Besuch in Tel-Aviv, der „Stadt, die niemals schläft“ ist für mich schon eine Fernreise per se. Leider schaffe ich Provinzhuhn es höchst selten in die pulsierende Grossstadt am Mittelmeer, bin aber dafür jedesmal von jedem Besuch umso mehr begeistert. Tel-Aviv hat unheimlich viel zu bieten: Einen kilometerlangen Sandstrand, viele verschiedene ältere und neuere Viertel, ein unerschöpfliches Angebot an kulturellen Anlässen, unzählige Märkte, Restaurants, Bars, Strassen-Imbisse und vor allem – schräge Leute ohne Ende. In Tel-Aviv kann man gar nicht aus dem Rahmen fallen, so ausgefallen man sich auch inszeniert.


Im zentral gelegenen Abraham-Hostel wird heute die Schnauz- und Bart-Europameisterschaft ausgetragen. Die Teilnehmer sind seltsame Käuze aus verschiedenen Ländern, die mit dem für mich recht fragwürdigen Ziel in Tel-Aviv angereist sind, ihre mit viel Spray frisierten und verklebten Schnurrbärte und Bärte zur Schau zu stellen. Da bei der Auswertung auch die Kleidung eine Rolle spielt, übertreffen sich die Kandidaten mit authentischen Trachten und phantasievollen Kostümen. An Sprachen hört man englisch, spanisch, italienisch, aber auch schweizerdeutsch und so ausgeprägte österreichische und bayrische Dialekte, dass ich davon kein Wort verstehe.

Leider lässt die israelische Organisation des Anlasses zu wünschen übrig und so verlassen wir das Hostel zwar mit vielfältigen Eindrücken von phantasievoller Bartkunst, aber ohne zu erfahren, wer den diesjährigen Europameister-Titel davontragen wird.

Nun schlendern wir den Rothschild-Boulevard entlang, welcher abwechselnd von authentischen und sorgfältig renovierten Gebäuden aus der Gründerzeit und modernen Bürogebäuden flankiert wird. Zwischen den beiden Fahrspuren spendet in der Mitte des Boulevards eine grosszügige Allee einem Rad- und und einem Gehweg Schatten. Wer vom Schlendern müde wird kann sich auf den zahlreichen Bänken niederlassen oder in einem der liebevoll gestalteten Kioske Eiscreme, Getränke oder einen Imbiss kaufen. Da ich mich im Alltag an ziemlich „herkömmliche“ Menschen aus meinem Wohndorf gewöhnt bin, kann ich mich hier an den vielfältigen kunterbunten Menschen kaum sattsehen. Nebst durchgestylten Fashonistas, bärtigen Hipstern, muskulösen Joggern, Dogwalkern mit ganzen Hunderudeln und den fast schon legendären schwulen und lesbischen Pärchen beeindruckt mich vor allem eine ganze Familie, die auf Einrädern vorbeiradelt: zwei Erwachsene und drei Kinder, jeder auf einem Einrad in passender Grösse. Dabei gibt sich der Kleinste, wohl kaum vierjährig, offensichtlich grosse Mühe, angestrengt aber doch recht schaukelnd den Anschluss nicht zu verpassen.

Zum Abendessen finden wir ein freies Tischchen in einem vietnamesischen Restaurant. Ich habe keine Ahnung, was ich von den fremdartig klingenden Namen in der Menükarte zu erwarten habe und so bestelle ich einfach eine Auswahl an Häppchen. Alles schmeckt fantastisch.

Den Abend runden wir mit einem für mich besonders exotischen Anlass ab: in einer Tel-Aviver Bar treffen wir uns mit Heimweh-Schweizern zum „Public Viewing“ des Fussballspiels Schweiz gegen Serbien. Mit Fussball habe ich sonst überhaupt nichts am Hut, aber heute lasse ich mich abenteuerlustig auf dieses Erlebnis ein. Eine halbe Stunde vor Anfang des Spiels haben sich schon zahlreiche Israel-Schweizer eingefunden und ich finde es sehr unterhaltsam, in der auf die Dizengoff-Strasse offenen Bar neue Leute kennenzulernen und schweizerdeutsch zu plaudern. Dann wird das Spiel angepfiffen, ich konzentriere mich auf die Leinwand und versuche, einen möglichst interessierten und fachkundigen Eindruck zu machen. Nach etwa fünfzehn Minuten hin und her – Serbien führt nun schon 1:0 – frage ich den Gatten leise, wie lange denn so ein Spiel dauert... Zweimal 45 Minuten, flüstert er zurück und damit hat sich wohl auch sein Wissen zum Thema Fussball erschöpft. Dass weder der Gatte noch ich Fussball mögen, mag vielleicht noch durchgehen, leider trinken wir aber auch beide kein Bier und bald stelle ich inmitten von gröhlenden Fussballfans fest, dass es in dieser Bar nur zwei schräge Vögel gibt – und die sind wir.

Die Zuschauer neben mir schütten fassweise Bier in sich hinein und ich werde schon ganz nervös, weil sie offensichtlich bis zur Pause nicht zur Toilette gehen können. Ausserdem wird hier ein Repertoire an mir bis anhin unbekannten schweizerdeutschen Flüchen zum Besten gegeben, das mich ernsthaft an meinen Schweizerdeutsch-Kenntnissen zweifeln lässt. Nach der Hälfte der ersten Halbzeit stelle ich fest, dass – die Roten gar nicht die Schweizer sind, sondern die Weissen! Na ja, dann bejuble ich jetzt eben die Weissen, so genau nimmt das ja keiner!

Viele der mitfiebernden Fans rauchen ganz unsportlich Zigaretten in Ketten und ich langweile mich nicht nur zunehmend, sondern befürchte auch ernsthaft im immer dichter werdenden Rauch zu ersticken. Meine kulturelle Experimentierfreude stösst an ihre Grenzen. Wenn ich ohne das Wissen leben kann, wer die Europameisterschaft im Schnauz- und Bartwettbewerb gewonnen hat, dann werde ich auch das Verpassen der zweiten Halbzeit dieses Fussballspiels verschmerzen können. Wir schleichen uns möglichst unauffällig aus der Bar und fahren nach Hause.

Wie schön, dass ich trotz den exotischen Erlebnissen dieses Abends die Nacht im eigenen Bett verbringen darf. Gemäss meiner neuen Leidenschaft schaue ich am Morgen natürlich sofort die Fussballresultate des gestrigen Abends nach. Zwei zu eins für die Schweiz! Hurra, wir haben gewonnen!

Montag, 18. Juni 2018

Abenteuer in Indien

Eine Arbeitskollegin beklagt sich, dass sie ständig viel zu beschäftigt sei, gerade auch privat. Sie hat drei noch jüngere Kinder und ich kann mich gut erinnern, dass auch für uns Juni immer eine sehr ausgelastete Zeit war. Täglich gab es Abschlussparties: im Judokurs, im Ballettkurs, in der Unterstufe, in der Oberstufe. Klassenfeste, Elternabende und Orientierungsanlässe für die kommenden Ferienprogramme oder das Pfadilager reihten sich aneinander. Es nahm jeweils kein Ende und damit wir zwei oder mehr Anlässen an einem Abend Folge leisten konnten, benötigten wir einiges an Organisationstalent und mussten manchmal noch ein drittes Kind mitschleppen, das eigentlich schon längst ins Bett gehörte.

Das ist aber schon einige Jahre her. Nun ist unser Haus ruhig, die Kinder sind nicht mehr zuhause. Ich habe den ganzen Abend nichts zu tun. Das aufgewärmte Essen steht schon in der Küche und wartet auf hungrige Kunden. Ja, der Boden müsste geschrubbt werden und die Fenster waren auch schon sauberer, aber ich finde, dass ich mir einige Stunden Auszeit redlich verdient habe.

Das Buch „Die Vertreibung aus der Hölle“ von Robert Menasse fängt spannend und vielversprechend an. Aber immer wieder schweifen meine Gedanken ab.

Unsere weltenbummelnde Tochter hat sich nach zwei Monaten in Thailand, Kambodscha und auf den Philippinen von ihrer Reisepartnerin getrennt. Zwei Monate intensive Partnerschaft rund um die Uhr waren wohl etwas zu viel des Guten für die beiden Freundinnen. Jetzt verweilt Sivan auf Durchreise in Bangkok und hat vor, alleine nach Nordindien zu gelangen. Der Flug sollte sie nach Delhi bringen und von dort plant sie, mit dem öffentlichen Verkehr in einer Tagesreise nach Dharamsala im Norden zu reisen.

Einst dachte ich, dass Bangkok Sodom und Gomorrha sei, aber wenn ich an Delhi denke, bin ich ganz beruhigt, wenn sie sich in Thailand noch etwas Zeit lässt. Unser Freund M., der in Indien geboren ist und dort seine Kindheit verbracht hat, meint zu Delhi nur trocken: „DA willst du nicht hin“. Es soll die Hölle auf Erden sein. Menschenleben sind in Indien nicht allzuviel wert und die Weiblichen haben dazu noch keine Rechte.

Seit ich von Sivan’s Plänen weiss, schrecke ich jede Nacht schweissgebadet hoch. Ich träume, wie mein kleines Mädchen mit grossem Rucksack in den verdreckten Strassen Delhis umherirrt und dabei von Horden blutrünstigen, geilen jungen Männern verfolgt wird, die sich noch nicht entschieden haben, ob sie die hübsche junge Frau zuerst berauben, vergewaltigen oder erschlagen sollen.

Nur den Dienstag überleben, denke ich mir, und von ihr gute Nachrichten erhalten, dann kann ich aufatmen und weiterleben. Doch dann verschiebt sie ihren Flug um eine Woche und verschafft mir damit viele weitere schlaflose Nächte.

Auch jetzt lege ich mein Buch zur Seite, tippe in Google „Main Bazar Delhi“ ein und sehe mir auf Fotos und Filmchen das Gewimmel von Leuten, Autos, Rikschas, Fahrrädern und Kühen in der dreckigen Strasse zwischen den abbröckelnden Fassaden des Bazars an. Zum Glück werden die Hitze und der Gestank nicht rübergebracht. Ich kann mich nicht mehr auf mein Buch konzentrieren. Dafür lese ich im Internet Reiseberichte über Delhi. Wenn das nur gut gehen wird, denke ich.

Und – eigentlich würde ich ganz gerne wieder einmal einen Abend mit meinen Kindern an irgendeiner Unterstufen-Abschlussparty verbringen. 

Schon erreichen uns die Bilder per WhatsApp

Nachtrag: Bis ich diesen Beitrag geschrieben habe, ist Sivan gut in Dharamsala angekommen. Für den Flug nach Delhi und die Reise in den Norden hat sie sich einer Reisegruppe von weiteren jungen Israelis angeschlossen. Jetzt erholt sie sich vom Trauma der Busfahrt, die, laut ihrem Bericht, ein zwölfstündiges Schweben zwischen Leben und Tod war. Als sie uns am Telefon lebhaft davon erzählt, weiss ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Für die kommenden Tage hat sich für einen Yogakurs und einen Vortrag des Dalai Lama angemeldet. Darf ich wieder einige Nächte durchschlafen?

Donnerstag, 14. Juni 2018

Gedanken am Rhein


Vier Stunden Flug trennen mich von der brodelnden Hexenküche und dem Paradies auf Erden.

In den Tagen vor meinem Abflug in die Schweiz ist im und um den Gazastreifen immer noch die Hölle los. Zehntausende Palästinenser, von der Hamas aufgestachelt und trotz drohender Lebensgefahr in die brenzlige Zone geschickt, werfen Steine, Molotowcocktails, Granaten und Brandkörper über den Grenzzaun. Auf der israelischen Seite stehen Weizenfelder, Kirschenplantagen und ganze Naturreservate in Flammen. Die randalisierenden Palästinenser fackeln den Grenzübergang ab (wo sonst lebensnotwendige Güter die Grenze passieren) und demolieren ihre eigene Stromversorgung und alles muss mit israelischen Geldern wieder aufgebaut werden. Unsere Soldaten liegen schwitzend im heissen Sand um Gaza und lassen sich mit steigender Frustration mit gefährlichen selbstgebastelten Brandobjekten bewerfen. Viele Palästinenser werden erschossen.

Auf dem Weg zur Arbeit vernehme ich aus dem Radio, dass Israel trotz der Kriegssituation Generatoren in den Gazastreifen liefert, um die lebensnotwendige Stromversorgung in den Krankenhäusern auch während den täglichen Ausfällen sicherzustellen. Weil die Generatoren von der Hamas immer wieder missbraucht und zum Graben von Terrortunnels entwendet werden, statten sie die Israelis neuerdings mit teuren HiTech-GPS-Sensoren aus, die eventuelle Bewegungen der Generatoren im Gazastreifen über Satellitenfunk anzeigen. Kein Wunder, bezahle ich fast 40% Steuern!

Die argentinische Fussballmannschaft mit Messi sagt nach Drohungen von seitens der Palästinenser in letzter Minute ein freundschaftliches Spiel in und gegen gegen Israel ab, obwohl das Spiel innert weniger Stunden bis zum letzten Platz ausverkauft war. Fussball wäre ein bisschen Normalität, aber die Israelis stecken auch diesen Schlag ein und machen weiter.

Ein weiterer versteckter Terrortunnel, der vom Gazastreifen ins Meer führt und mit missbrauchten Spendengeldern in Millionenhöhe von der Hamas für Terrorzwecke gebaut wurde, wird vom israelischen Militär entdeckt und zerstört.

In Lianne’s Schule sagt eine spanische Schulklasse den für einen Schüleraustausch geplanten Besuch ab. Haben sie Angst? Wollen sie nichts mit Israel zu tun haben? Wir wissen es nicht, aber Lianne und ihre Schulkollegen sind schwer enttäuscht.

Die Situation ist vertrackt, komplex und vollkommen absurd.

Dieses ganze infernalische Durcheinander wird von einer unerträglichen Hitzewelle untermalt. Temperaturen bis zu 40 Grad heizen die Situation noch zusätzlich ein. Das ganze Land schwelt in Hitze, Sand, Staub, Rauch und Feuer.

Nach drei Stunden Lesen und einem ungeniessbaren Flugzeugfrass treffe ich auf eine grüne und ruhige und friedliche Schweiz. Die Schweizer gehen zur Arbeit, ziehen ihre Kinder gross, pflegen ihre Freizeit, fahren aus, wandern und treiben Sport. Das schöne Sommerwetter bringt sie ganz aus dem Häuschen. Ausserdem kümmern sie sich um inner- und ausserpolitische Angelegenheiten und stimmen fast jedes Wochenende über irgend etwas mehr oder weniger Wichtiges ab. In den Zeitungen und den Nachrichten schauen sie ab und zu über die Grenzen und empören sich über das Geschehen in der Welt.

Den sanften Hügeln im Fricktal macht die Sommerhitze nichts aus, im Gegenteil, sie erscheinen kräftig grün und fruchtbar in ihrer ganzen Pracht. Nur eine kurze Radfahrt vom Haus meiner Eltern liegt der Rhein ruhig und breit an der Grenze zu Deutschland und in der friedlichen Abendstimmung ist es schwer zu glauben, dass anderswo die Erde brennt.

Mich bringt die zum Himmel schreiende Diskrepanz zwischen der verrückten Situation in Israel und dem gemächlichen Paradies Schweiz wieder einmal ziemlich aus dem Gleichgewicht. Immer wieder drängt sich mir das Bild von deutschen oder polnischen Bürgern auf, die im zweiten Weltkrieg hinter geschlossenen Fenstern und zugezogenen Gardinen einen Blick auf die in den Strassen abtransportierten Juden erhaschen. Keiner hat etwas gesehen, keiner weiss etwas.

Ja, ich weiss, man muss sich in X-tausend Kilometern Entfernung nicht darum kümmern, was in Israel los ist. Und ich weiss auch, dass es leider auf dieser Erde noch viele Kriege und Katastrophen gibt. Wir können uns nicht um alles kümmern. Und wahrscheinlich auch kaum etwas ausrichten. Und man hat ja auch genug eigene Probleme. Aber ich komme soeben aus der Hölle und das kann ich nicht verdrängen, während ich mit Bekannten und Familienmitgliedern über Belangloses rede.

Leider kann ich mit niemandem darüber sprechen, denn Viele haben keine Ahnung oder eine festgefahrene Meinung und die Meisten haben beides. Ist es denn so schwierig, die wenigen korrekten Zeitungsartikel zu lesen und nicht auf die Lügen in den Medien hereinzufallen? Den Spreu vom Weizen zu trennen? Sehen sie denn nicht, dass sie dem Rattenfänger hinterherlaufen? Und ist es in Ordnung, keine Meinung zu haben? Und dabei mit geschlossenen Augen der totalen Katastrophe entgegenzuschlittern?

Viele Schweizer vertreten die Haltung, dass „die andere Wange hinzuhalten“ Frieden bringen könne. Auch ich wuchs in diesem Glauben auf. Heute bin ich überzeugt, dass man, in die Zukunft denkend und um Frieden zu erreichen, das Böse bekämpfen muss. Die Erdenbürger sind leider nicht von Grund auf gleich und gut, so sehr man das auch glauben möchte. Mit der Politik des „die andere Wange hinhalten“ wird sehr viel Schaden angerichtet und Kriege werden auf grossem oder kleinem Feuer in Endlosschleife am Leben erhalten.

Nach einer Woche trete ich den Rückflug in die Hölle an und bin froh, wieder in Israel zu sein. Nicht nur, weil ich mich hier zu Hause fühle – ich kann nicht mehr zu dem Volk gehören, das sich ohne Meinung (im besten Fall!) hinter zugezogenen Gardinen versteckt und nichts gesehen haben will. Lieber bin ich mittendrin und gehe auch in Flammen auf.

Samstag, 26. Mai 2018

Achtsamkeit

Ich gebe zu, ich bin ein ziemlicher Freak meines Smartphones. Ich liebe die Möglichkeiten, die es mir bietet. Mein Tag beginnt mit einem Blick in die Wetter-App, damit ich weiss, was ich anziehen soll. Im Morgenstau lese ich mein aktuelles Buch auf der Kindle-App (bitte nicht der Verkehrspolizei verraten). Während im Büro der Computer hochfährt, lebe ich auf Instagram mein Fotografier-Hobby aus. Nachmittags und abends eile ich von Termin zu Termin, an welche mich meine Kalender-App geflissentlichst erinnert und am Abend lasse ich den Tag auf dem Sofa beim Lesen deutschsprachiger Medien meiner Wahl über Facebook ausklingen. Beim Joggen gibt mir die Running-App gewissenhaft Bescheid, wieviele Kilometer ich schon gelaufen bin und die dazu gehörende Navigations-App sorgt dafür, dass ich beim Geländelaufen nicht verloren gehe. Weil ich oft alleine laufe, verfüge ich ausserdem über die Notfall-App des Magen David Adom, des israelischen Notfallrettungsdienstes. Im Falle eines Herzinfarktes, Schlangenbisses oder gar Überfalls muss ich nur noch mit letzten Kräften den Notfallknopf drücken und schon sendet die App meinen Hilferuf, zusammen mit meinen GPS-Koordinaten und meinen gesamten medizinischen Daten an die nächstliegende Notfallstation. Selbstverständlich hat das Smartphone eine fantastische Kamera, die immer dabei ist und mit welcher ich die schönen Momente in meinem Leben einfangen und mit der Instagram-Community teilen kann.

Das sind nur einige der Vorteile, die mir mein Smartphone bietet und natürlich darf ich auch WhatsApp nicht unerwähnt lassen: Mit einem Sohn im Militär und einer Tochter, die in Asien herumtrampt, bin ich mit dieser App immer bestens über die aktuellen Geschehnisse vom Gaza-Streifen bis nach Kambodscha informiert. Dass die Nachrichten von der Kriegsfront und aus Asien aufgrund ihrer Dringlichkeit oder wegen der Zeitverschiebung vor allem nachts eintreffen, finde ich nicht weiter schlimm. Ich habe mich schnell daran gewöhnt, nur noch mit Unterbrüchen zu schlafen. Das hat auch den Vorteil, dass ich meine Sechzehnjährige über WhatsApp rund um die Uhr unter strengster Kontrolle habe.

All diese Vorteile weiss ich sehr zu schätzen, aber natürlich bin ich nicht süchtig und im Gegensatz zu der jüngeren Generation ist mir immer klar, wo die Grenze zwischen virtueller und realer Welt verläuft. Ausserdem lasse ich das geliebte Stück auch ab und zu absichtlich in der Schublade, zum Beispiel wenn ich in der Kantine essen gehe und neuerlich im Kino schaffte ich es, zwei Stunden nicht auf das Display zu schauen – bis auf ein kurzes Update während der Pause. Manchmal nehme ich mir auch fest vor, wieder einmal einfach ein Buch zu lesen und ab und zu schaffe ich das sogar für etwa zwei bis drei Seiten. Dann zappe ich wieder im Facebook herum.

Ich habe keine Ahnung, wie ich mein Leben vor dem Zeitalter des Smartphones über die Runden gebracht habe – aber diese Woche bekam ich Gelegenheit, mich daran zu erinnern. Das geliebte Gerät fiel nämlich zu Boden und gab den Geist auf. Kein Kratzer, Splitter oder Bruch wiesen auf einen Schaden hin und wie ich den Piepstönen entnehmen konnte, gingen weiterhin sehr wichtige Nachrichten ein – aber der Bildschirm blieb schwarz.

Natürlich war ich zuerst aufgebracht und sogar etwas schockiert: Wie lange würde es dauern, das Gerät zu reparieren? Und würde dies überhaupt ...? – diesen Gedanken wage ich gar nicht zu Ende zu denken. Nachdem ich mich vom ersten Schock erholt hatte, beschloss ich aber, aus der Not eine Tugend zu machen und die gerätelose Zeit jetzt einfach so bewusst wie möglich zu erleben. Das nennt man Achtsamkeit. Es soll heutzutage sogar Kurse, Übungen und Meditations-Wochenende geben, um achtsames Leben zu lernen. Ich bekomme meinen Kurs nun gratis und franko.

Die Kinder, wo auch immer sie sind, können mir jetzt einfach einmal gestohlen bleiben. Irgendwann muss man sich ja mal abnabeln. Beim Laufen habe ich keine Ahnung, welche Distanz ich zurückgelegt habe und wo ich gerade bin und finde es fantastisch, einfach weiter zu laufen und verloren zu gehen. Ohne die Nachrichten, die ich sonst über Facebook verfolge, bessert sich meine Laune innert Stunden. Der Kalender? Ach was, ein paar Arzttermine weniger können nur von Vorteil sein. Auch das sechzehnjährige Töchterchen weiss die Tage ohne Kontrolle zu nutzen und sie lässt sich ohne mein Wissen einige zusätzliche Piercings verpassen. Das gibt mir Anlass zu denken, ob wir unsere Beziehung vielleicht auch sonst über die üblichen WhatsApp-Nachrichten hinaus erweitern sollten.

Abends sitze ich auf dem Sofa und – lese. Seitenweise und ohne abgelenkt zu werden. Dass dabei ab und zu die Finger zucken, wird sich mit der Zeit wohl geben.

Samstag, 19. Mai 2018

Drum prüfe, wer sich ewig bindet...

Die genauen Zahlen sind mir nicht bekannt, aber ich schätze, dass von 350 Mitarbeitern, die bis vor Kurzem an meinem Arbeitsplatz angestellt waren, etwa 150 im vergangenen Quartal wegrationiert worden sind. Nun stehen zahlreiche Büros leer. Im Zuge der Umstrukturierung sollen demnächst etwa 100 Mitarbeiter von einem anderen Sitz hierher verlegt werden. Darüber bin ich nicht sonderlich erfreut, denn ich habe eine gravierende Merkschwäche für Gesichter und Namen. Dass die vereinzelten Personen, die ich mir mit Mühe habe merken können, jetzt mit unzähligen neuen Gesichtern durchgemischt und aufgefrischt werden sollen, ist für mich verheerend.
In Vorbereitung für die „neuen“ Mitarbeiter und um das Durcheinander komplett zu machen, wird unsere Sitzordnung in den Büros neu organisiert und diese Woche findet der grosse Umzug statt.
Vor einigen Tagen musste auch ich umziehen. Die mysteriöse höhere Macht, die über die Büro-Zuteilung entscheidet, teilte mir ein Zweier-Zimmer mit einem mir unbekannten (wie könnte es anders sein) Mann von einer anderen Abteilung zu.

Im israelischen Fernsehen gibt es eine Reality-Show, in welcher ledige Frauen und Männer verheiratet werden, ohne sich vorher zu kennen, nachdem sie von einem Expertenteam für passend befunden worden sind. Im Ernst. Das ist unglaublich und absurd, aber genau so fühlt sich auch meine neue Büro-Partnerschaft an. Während ich meinen Mann jahrelang prüfte, bevor wir heirateten, obwohl ich mit ihm schlussendlich nur wenige Wochenstunden mehr verbringe als mit meinem Büropartner (und die meisten davon im Schlaf), werde ich nun den Grossteil meiner Zeit mit einem Unbekannten teilen, den ich noch nie gesehen habe. Ich bin aufgeregt. Werden wir harmonieren? Für alle Fälle lege ich als erste Massnahme die Fernbedienung der Klimaanlage demonstrativ auf MEINEN Tisch.

Als der junge Mann sich bei mir vorstellt, macht er – das kann ich nicht bestreiten – einen formidablen Eindruck: jung, nett, gutaussehend, gute Manieren, gebildet, mit schönem französischem Namen und charmantem französischem Akzent. Besser hätte ich selbst nicht wählen können.

Und doch wird mir nach wenigen Stunden im gemeinsamen Büro klar, dass aus dieser Partnerschaft nichts werden kann – denn F. ist ein Zappelphilipp. Wer mich kennt, weiss, dass zappelnde Glieder für mich ein absolutes Tabu sind. Zappelnde Beine, Füsse oder Arme bringen mein inneres Gleichgewicht aus der Ruhe, deshalb meide ich die angenehmste Person, wenn sie die Glieder nicht stillhalten kann. Zappeln bringt mich an den Rand des Wahnsinns.

Genau genommen sehe ich den charmanten Zappler in meinem Büro gar nicht, wenn ich den Blick auf meinen Bildschirm richte, denn er sitzt im 90-Grad-Winkel zu meiner Linken und er verschwindet, bis auf die untersten 30 Zentimeter, hinter Bildschirm und Tisch.
Das sind eigentlich ideale Bedingungen – wäre da nicht der zappelnde Fuss, den ich in meinem linken Augenwinkel ungewollt wahrnehme. So sehr ich auch versuche, mich nur auf meinen Bildschirm zu konzentrieren und alles darum herumliegende auszuschalten, zieht der zappelnde Fuss meine Aufmerksamkeit magisch an. Sobald der Fuss zu zappeln beginnt, ist es mit meiner Konzentration augenblicklich dahin und ich verliere den roten Faden inmitten der kompliziertesten Aufgabe oder einer wichtigen Telefonbesprechung.

Der Zappelfuss, soviel weiss ich nach einem ersten gemeinsamen Bürotag, zappelt während etwa 50% meiner Arbeitszeit. Wenn es mit dem Zappeln ganz schlimm wird, steht der Zappelphilipp auf, dreht einige Runden im Korridor und setzt sich dann beruhigt wieder hin. Bis... – bis er wieder zu zappeln anfängt. Jetzt vermisse ich schon fast meine frühere Bürokollegin, obwohl mich ihr lautes Schlucken beim Kaffeetrinken immer ärgerte. Als ich am Abend das Büro verlasse, bin ich selbst schon ganz hibbelig und mache mir ernsthafte Sorgen um meine zukünftige Leistungsfähigkeit. Sollte ich mit meinem Vorgesetzten darüber sprechen? Wobei – wenn die Firma die Kündigung von mehr als einem Drittel Mitarbeiter ohne weiteres verkraftet, wird wahrscheinlich die zu erwartende Leistungseinbusse meiner Wenigkeit niemanden aus der Fassung bringen. Ich werde mich mit dem Zappelphilipp abfinden müssen. In Beziehungen muss man Kompromisse eingehen. Aber die Klimaanlage bleibt auf jeden Fall unter meiner Kontrolle.