Donnerstag, 18. April 2024

Kein bisschen dazugelernt

Nach der Erleichterung und einigen kurzen, vielleicht sogar euphorischen Momenten, die dem erfolgreich abgewehrten Angriff des Iran folgten, bricht nun wieder alles über mir zusammen. Die Angst, das unterschwellige Trauma, das kontinuierliche Leid, die Hoffnungslosigkeit, alles ist wieder da. Die Last ist schwer und es geht mir nicht gut. Niemandem in Israel geht es gut und vielen geht es viel schlechter als mir.

Die Welt der anderen in Europa und Amerika dreht sich weiter. Krisen und Kriege kommen und gehen, werden diskutiert, analysiert, politisiert und ad acta gelegt. Jetzt gerade diskutiert die Weltöffentlichkeit die möglichen Konsequenzen eines israelischen Gegenschlags, bald wird es etwas anderes sein. Bei uns aber ist immer noch Oktober 2023. Tausende Israelis haben schlimmste Traumata und Verletzungen zu bewältigen. Vor allem aber wollen wir zuerst einmal einfach unsere Leute zurück. Ich verbringe keine Stunde, ohne an die Geiseln und ihre Angehörigen zu denken. Die Kinder, die jungen Frauen, die Männer, die Alten. ALLE! Die Aussichten, sie zurückzubekommen, sind geringer denn je. Man kann sich das Leid der Angehörigen nicht ausmalen, diesen endlosen, zermürbenden, brutalen Wahnsinn.

Die Hamas-Versteher auf den Strassen Europas aber vermehren sich. Sie beschuldigen Israel, nicht aber die von den Wählern Gazas ins Amt gehobene Terrororganisation, in deren Gründungscharta die Vernichtung aller Juden als Grundgesetz verankert ist.

Im Norden Israels können weiterhin Zigtausende Israelis nicht in ihre Wohnungen zurückkehren. Städte und Dörfer stehen leer. Israel wird nicht nur aus dem Iran, sondern auch täglich aus dem Libanon, aus Jemen, Irak und Syrien beschossen. Das wird sich nicht ändern, wenn nicht irgendetwas passiert. Das „irgendetwas“ wird vermutlich nichts Angenehmes sein, also verbleiben wir weiter in lähmender Erwartung der Entwicklungen. Ausser El Al haben wieder alle Fluggesellschaften ihre Flüge storniert. Wir sitzen hier fest ohne Fluchtmöglichkeit, umringt von feindlichen Staaten.



Mitte Woche staucht mich das „Gedicht“ Dieter Hallervordens "Gaza Gaza", über das ich im Netz stolpere, total zusammen (ich verlinke es nicht). Vollkommen selbstverliebt zelebriert Hallervorden drei Minuten antisemitische Klischees vor dem Hintergrund von Propaganda-Videos der Hamas. Ich denke nicht, dass Hallervorden je mit einem einzigen Israeli oder Palästinenser gesprochen hat. Er sitzt im bequemen Deutschland und reimt sich seine Wahrheit zusammen. Israel als Apartheidstaat, die Juden als Kindermörder. Er spricht von Völkermord und mit der Aussage „Kein Mensch wird als Terrorist geboren", rechtfertigt er den Terrorismus. Klarer kann er wohl kaum ausdrücken, dass er in der Existenz Israels den Grund für die Probleme im Nahen Osten sieht.

Nun wäre ja eine einzelne verblendete Person halb so schlimm. Aber der Text entspricht dem Zeitgeist – in den Kommentarspalten jubeln ihm Tausende zu! Die wenigen Stimmen, die den Song verurteilen, sind jüdische. Doch die Juden werden allein gelassen mit der Situation.

Die Parallelen zum Judenhass in den Dreissiger Jahren sind so augenfällig, dass mir schlecht davon wird.

Ich schätze, dass Dieter Hallervorden so um die 90 Jahre alt sein muss und frage mich, mit welchen Aktivitäten er wohl seine Kindheit verbracht hat. Bei einer kurzen Suche im Netz erfahre ich, dass er 1935 geboren ist und finde folgendes, aus einem Interview vom Februar 2008:

Bild am Sonntag: Wer waren die Vorbilder Ihrer Jugend?

Dieter Hallervorden: Als 6-Jähriger: Hitler! Verführt von einer perfiden Nazi-Propaganda-Maschine.

Dieter Hallervorden – 89 Jahre und kein bisschen dazugelernt?


Sonntag, 14. April 2024

Doch kein Medien-Spin

Nach zu vielen Tagen der zermürbenden Anspannung relativiert sich meine Angst. Ich trete das Wochenende recht locker und zuversichtlich an. Vielleicht sollte man nicht auf jeden Medien-Spin hereinfallen, denke ich mir schon fast, was die Bedrohung aus dem Iran anbetrifft.



Ich freue mich über den Frühling im Garten, der am Samstagmorgen die Fenster zum Leuchten bringt. Doch am Abend spitzt sich die Lage zu. Der Sprecher der IDF und das Heimatfrontkommando ändern ab sofort die Richtlinien aufgrund der hohen Alarmbereitschaft für einen iranischen Angriff. Israel schließt für den Wochenanfang die Schulen, sagt ausserschulische Bildungsaktivitäten ab und verbietet grössere öffentliche Veranstaltungen.

Sofort ist meine Anspannung wieder auf dem Höchstpegel, aber noch viel mehr die Verwirrung. Was bedeuten die Anweisungen? Was weiss unsere Regierung? Was erwartet uns?

Wir frischen die Wasservorräte im Schutzraum auf und laden alle vorhandenen Ladegeräte für den Fall eines Stromausfalls. Was noch? Wie kann man sich auf das Unvorhersehbare vorbereiten?

Kurz bevor ich schlafen gehe, erfahren wir, dass der Iran Dutzende unbemannte Fluggeräte auf Israel abgefeuert hat. Die Eilmeldung kursiert in Sekundenschnelle durch alle WhatsApp-Gruppen und sozialen Medien. Eyals Brüder rufen an. Sie besprechen einen Katastrophenplan für die alleinlebende Schwiegermutter. Dann telefonieren wir mit Itay und Sivan in Tel-Aviv und bitten sie ausdrücklich, sofort zu uns fahren, um bei uns zu übernachten. Natürlich weigern sie sich genauso wie die Schwiegermutter. Wie für die meisten jungen Israelis sind solche Situationen leider auch für unsere Kinder nichts aussergewöhnliches. Sie sind nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen und behaupten, es würde neun Stunden dauern, bis die Katbamim in Israel eintreffen, bis dann könnten sie zehnmal zu uns fahren.

UAVs (unmanned aerial vehicle) nennt man in der hebräischen Abkürzung KatbamKatbamim im Plural. Wie viele andere hebräische Abkürzungen war mir dieser Ausdruck bis gestern Abend unbekannt. Ich bin total verwirrt und weiss nicht, was ich mit der Meldung anfangen soll, dass Dutzende iranische Flugkörper, unter denen ich mir nichts vorstellen kann, in Richtung Israel unterwegs sind. Schlafen gehen? Mich aus dem Fenster stürzen? Ich weiss es ganz einfach nicht. 

Nach den Telefongesprächen bitte ich Eyal mir zu erklären, was ein Katbam ist – etwas das in Israel offensichtlich jedes Kind weiss. Neun Stunden? Ich rechne kurz nach. Wie investiert man seine vielleicht letzten neun Stunden vor dem Super-GAU? Die Situation ist absolut nicht überschaubar und sehr beängstigend. Ich stelle sicher, dass irgendwelche Kleider griffbereit sind und da ich schon im Bett liege, bleibe ich liegen. Vielleicht wäre es doch eine gute Idee gewesen, in die Schweiz zu flüchten. Aber jetzt ist es zu spät, der Luftraum ist gesperrt. Mit diesen Gedanken schlafe ich ein.

Morgens um drei schrecke ich zum ersten Mal hoch und ein Blick auf das Handy ergibt, dass die Sache mit den neun Stunden offensichtlich nicht so genau recherchiert war. Der Himmel über Jerusalem ist voller Leuchtkörper und sieht aus wie eine Mischung von Feuerwerk und überreagierenden Sternschnuppen. Die iranischen Geschosse sind da. Bei uns aber ist es ruhig und so schlafe ich wieder ein. Ich erwache um sieben Uhr morgens und bin unendlich erleichtert, dass wir nicht in den Schutzraum flüchten mussten und wir einmal mehr gesund und unversehrt erwacht sind.

Ich setzte mich sofort an den Computer, um Nachrichten zu lesen. Wieder einmal bringen mehrere deutsche Zeitungen beim Versuch, die Situation im Nahen Osten zu umschreiben, mein Blut umgehend zum Kochen. Auch jetzt, nach dem Angriff des Irans auf Israel, können sie es nicht unterlassen, den Satz nachzuschieben"...dabei wurden nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums, die sich nicht unabhängig überprüfen lassen, in Gaza bisher fast 33.700 Menschen getötet."
Was soll dieser Satz, der nur auf Unterstellungen, Lügen und Verschwörungen beruht? Was sollen diese Relativierungsversuche, auch in Momenten, in denen Israel existentiell bedroht wird? Man kann es einfach nicht lassen, den Lesern weiszumachen, dass die Juden schuldig sind. Was soll das ganze "Nie Wieder"-Gefasel, wenn die Juden weiterhin so unverforen  zum Schuldenbock gemacht werden? Dieser Satz ist das moderne Äquivalent zur Theorie der Brunnenvergiftung durch die Juden im Mittelalter und zu allen anderen Schuldzuweisungen und Verschwörungstheorien über das jüdische Volk im Laufe der Jahrhunderte!




Im Laufe des Sonntagmorgens klärt sich die Situation auf. Das iranische Mullahregime hat in der Nacht über 300 Selbstmorddrohnen, Marschflugkörper und ballistische Raketen auf Israel abgefeuert. Es ist das erste Mal, dass der Iran Israel direkt von seinem Gebiet aus mit Drohnen und Raketen angreift. Mit Hilfe von internationalen Partnern konnten fast 100 Prozent der Flugkörper neutralisiert werden, bevor sie auch nur den israelischen Luftraum erreichten.

Der Iran hat versagt. Die meisten abgefeuerten Raketen wurden erfolgreich abgefangen und keine einzige Drohne oder Rakete ist in Israel eingedrungen. Aber der Iran hat folgendes erreicht:

Ein arabisches Beduinen-Mädchen wurde von Splittern schwer verletzt.

Die Verbindung zwischen Israel und den westlichen Ländern, die es unterstützen, wurde verstärkt. Jordanien hat einige der Raketen abgefangen und laut einem Bericht des Senders Al Arabiya soll auch Saudi-Arabien Raketen abgefangen haben.

Die Hauptleidenden sind wohl die Menschen im Iran. Sie haben die ganze Nacht über Tankstellen und Supermärkte geplündert und befinden sich nun vermutlich in hysterischer Panik. Die iranische Währung fällt auf einen historischen Tiefstand. Das iranische Regime ist offensichtlich im Begriff, den Nahen Osten und sein eigenes Volk zu zerstören.




Die Kosten für die Abwehrsysteme in dieser Nacht werden übrigens auf etwa 5 Milliarden Shekel, etwas über 1,300 Millionen Dollar, geschätzt.




Und jetzt? Wie wird es weitergehen? Heute sind wir alle etwas gelähmt von den Schrecken der Nacht. Ich spreche mit den Kindern, sie schildern, wie sie die Situation erlebt haben. Ich bin froh, dass Israel dieses Mal seine Bürger schützen konnte, aber es tut mir so leid, dass meine Kinder – überhaupt die junge Generation – mit dieser schrecklichen Realität aufwachsen müssen.


Sonntag, 7. April 2024

Ein verrücktes Wochenende

Die ganze Nation hält in Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Krieges mit dem Iran den Atem an. Die Reservisten des Luftverteidigungssystems werden eingezogen. Wir bekommen von verschiedenen Ämtern und Organisationen Anweisungen, wie wir uns im Ernstfall zu verhalten haben. Im Supermarkt häufen die Kunden ihre Wagen voll und das hat nicht nur mit dem bevorstehenden Pessachfest zu tun.

Und wir? Bei uns sind überhaupt alle total aus dem Häuschen: Unsere Tochter Sivan und ihr langjähriger Freund haben sich verlobt! Sie verbringen das Wochenende bei uns und wir laden zum ersten Mal offiziell die Eltern des Zukünftigen ein. Das ganze Wochenende bricht der Strom der ein- und ausgehenden Freunde gar nicht mehr ab. Das Haus füllt sich mit freudigem Lärm und Blumen. Der Küchendienst läuft auf Hochtouren. Die Champagnergläser werden mehrere Male gespült und sofort wieder eingesetzt. Die Themen des Tages sind die ausführlichen Details des Antrages – unsere sonst immer geistesgegenwärtige und zungenfertige Tochter soll so verblüfft gewesen sein, dass sie nicht einmal ein simples Ja über die Lippen brachte. Alle erdenkbaren Hochzeitskonzepte werden besprochen, wer welche Gäste bringen darf und natürlich – das Kleid. Mögliche Daten für das Fest werden in Betracht gezogen: September? Oktober? Vielleicht am besten spontan, gleich morgen oder besser noch heute, schlägt jemand vor. Mehrere Blicke treffen sich. Ohne es auszusprechen, wissen wir alle, was er denkt.

Was wird sein, bis im September oder Oktober? Wen oder was wird der Iran zuerst angreifen? Ist unser Haus, unser Wohnort noch sicher? Wer wird überhaupt noch leben? Wen wird es treffen? Ich weiss, dass alle hier Anwesenden dieselben Gedanken verdrängen. Keiner sagt ein Wort. Wir feiern, als wären es unsere letzten Tage. Wer weiss… 

Einer der Jungen, der im Dienst ist, berichtet aus erster Hand von der evakuierten Stadt Kiryat Shmona im Norden, die man schon seit Monaten nicht mehr besuchen kann. Früher war ich dort öfter, meistens auf Durchreise, aber einige Male auch zum Übernachten. Jetzt sind die Hauptstrassen in die Stadt mit Betonblöcken verbarrikadiert. Die Strassen sind vom Verkehr der Panzer zerstört, sowie auch viele Gebäude von den Geschossen der Hisbollah. Die Einwohner der Stadt leben seit Monaten im ganzen Land verstreut in Behelfswohnungen und Hotels.

Bei einem Blick auf die Nachrichten zwischen den Feierlichkeiten erfahren wir, dass die IDF den Leichnam des israelischen Landwirts Elad Katzir aus Gaza geborgen hat. Er wurde in Geiselhaft ermordet, nachdem die Hamas Anfang Januar noch Videos von ihm lebend verbreitet hatte. Der Vater Avraham Katzir wurde bei den Massakern von der Hamas und weiteren Palästinensergruppen getötet. Elads Mutter Hanna Katzir wurde ebenfalls aus Nir Oz in den Gazastreifen verschleppt und dort als Geisel festgehalten, sie kam im Rahmen des Abkommens Ende November vergangenen Jahres frei. Jetzt muss sie, nach allem, das sie durchgemacht hat, auch noch ihren Sohn zu Grabe bringen.



Heute Morgen sind die Gläser und die leeren Flaschen verräumt. Während wir feierten, sind am Wochenende im Gazastreifen vier zwanzigjährige Israelis gefallen. Nun, ein halber Tag später, erscheint die ausgelassene Fröhlichkeit einiger Stunden surreal. Der bodenlose Schmerz zwingt uns wieder in die Knie. Dazu erwarten wir jeden Tag, jede Stunde den grossen Knall. Was wird passieren? Wird der Iran direkt oder über einen seiner Terrorvermittler angreifen, die Hisbollah im Libanon, die Houthis im Jemen oder Milizen in Syrien? Die Spannung ist unerträglich. Und die Angst vor dem, was die nächsten Tage und Wochen bringen werden, schnürt uns erneut die Kehle zu.

Heute markieren wir ein halbes Jahr seit dem Tag, an dem das Leben im Nahen Osten für alle eine schlimme Wendung genommen hat. Auf instagram stolpere ich über einen Beitrag der IDF, die zum ersten mal einige der schockierenden Aufnahmen des 7. Oktobers veröffentlicht. Ich kann es mir nicht ansehen, es ist nicht zu ertragen. Während die Welt vor allem Mitleid mit den Palästinensern hat und Israel verurteilt, lese ich diesen längeren Artikel, der aufzeigt, wie die Hamas mit allen modernsten Mitteln absolut klug, berechnend und systematisch seit Jahren auf ein Ziel hinarbeitet: die Vernichtung Israels. Dass da noch die Palästinenser beweint werden, die für die Hamas und alle hinter ihr stehenden Organisationen nur ein weiteres Mittel zum Zweck sind, ist unfassbar, traurig und lächerlich und alles zusammen. 
Wer ist einem so finster entschlossenen und kompromisslosen Feind überhaupt gewachsen? Wer könnte ihn besiegen? Vielleicht – wenn sich alle Menschen und Mächte der Erde zusammenschliessen würden… Aber davon sind wir weit entfernt. Beim Lesen des Artikels stockt mir das Blut in den Adern und ich möchte nur noch eines: die Koffer packen und irgendwohin verschwinden, am besten gleich auf den Mond.


Mittwoch, 3. April 2024

Fliegen mit dem Papst

Trotz überfülltem Flugzeug habe ich den Heimflug gut überstanden. Nun bin ich wieder in dem Land, das ich so sehr liebe und weiterhin lieben möchte, obwohl mir diese Liebe im Moment nicht leicht fällt. Das Land ist gebeutelt und geschunden und hat gerade sehr wenig mit dem starken, lebensfreudigen und bewundernswerten Israel gemeinsam, das es bis vor einigen Jahren noch war.

Beim Boarding des El Al Flugs nach Tel-Aviv erspähte ich in der Business-Class Rabbiner Meir Israel Lau, über den ich hier geschrieben habe. Rabbiner Lau ist vielleicht eine etwas seltsame Kultfigur für einen säkularen Menschen wie mich, doch seit ich seine Lebensgeschichte gelesen habe, finde ich ihn bewundernswert. Lustigerweise erkannte ich Rabbiner Meir Israel Lau, aber um sicherzugehen, dass es sich wirklich um ihn handelt, hätte ich beinahe seinen Begleiter angesprochen. Zum Glück unterliess ich die Nachfrage, denn wie ich später in Erfahrung bringen konnte, handelte es sich bei dem jüngeren der Reisenden um den Sohn Rabbiner David Lau – der amtierende Oberrabbiner Israels! (Das hingegen kann nur einer säkularen Person wie mir geschehen und ich schäme mich für das Unwissen.)

Was für eine Begleitung! Noch nie hatte ich mich auf einem Flug so sicher gefühlt! Für Christen wäre das wohl so etwa, als ob der Papst mitfliegen würde. Wie aufregend!  Leider hatte ich nicht den Mut, die Beiden anzusprechen. Und die Idee, meinem Idol durch die Flugbegleiterin ein Zettelchen zukommen zu lassen, wie ein aufgeregter Teenager seinem Angebeteten, schien mir auch unangebracht. Schade, so habe ich wieder einmal eine bereichernde Gelegenheit aufgrund fehlender Chuzpe verpasst.

In der Woche meiner Abwesenheit hat sich das Wetter in Israel vom Winter verabschiedet. Heute zeigt das Aussenthermometer 28 Grad. Ich weiss, dass mir die Hitze in den kommenden Monaten auf die Nerven gehen wird. Aber gerade heute noch geniesse ich die Helligkeit, das Licht und die Sonne. Alle Fenster stehen offen, ein leichter Wind spielt mit den Vorhängen und seit sechs Uhr morgens ist es taghell. Nach der grauen, regnerischen Woche in der Schweiz ist das Genuss pur.

Nun gilt es, sich wieder mit den Katastrophen vor Ort auseinander zu setzen. Das fällt mir in Israel erheblich leichter, als aus der Distanz. Dort sind die Katastrophen eh mit dabei (in meinem Kopf) und ich fühle mich damit alleingelassen. Ausserdem bin ich nach einer Woche in der Schweiz, wo ich leider den Nachrichten auf SRF und anderen Kanälen nicht immer entkommen konnte, auch schon fast überzeugt, dass die Israelis ein extrem kriegsfreudiges und rücksichtsloses, wenn nicht sogar blutrünstiges Volk sind. So viele Falschinformationen und subtiles Weglassen von wichtigen Hintergrundinformationen, das steht der Propagandamaschinerie des dritten Reiches wirklich in nichts mehr nach. Da sind mir die Katastrophen vor Ort, aber wenigstens aus erster Hand, schon fast lieber.

Am Tag vor meinem Rückflug demonstrierten wieder Zigtausende Israelis gegen die Regierung unter Blockierung wichtiger Verkehrsadern und Gebrauch rechtswidriger Gewalt. Einige der Demonstranten wurden festgenommen – nur um am nächsten Tag wieder freigelassen zu werden. Es sind mehr oder weniger dieselben Menschen, die schon Monate vor dem 7. Oktober jede Woche demonstrierten, doch jetzt kappen sie das Geiselthema für sich. Sie skandieren "sofortige Freilassung der Geiseln". Ich verstehe das nicht – glauben sie wirklich, dass irgendjemand in der jetzigen Regierung nicht dasselbe wünscht? Und wie genau stellen sie sich die Lösung des Problems vor?

Das ist perfide Ausbeutung und Übernahme der Geiselthematik, mit der die Angehörigen der Geiseln gar nicht unbedingt zu tun haben wollen, ja, die sogar den Schmerz der Familien der Geiseln ausnutzt. Dazu unter anderem dieser Artikel in der Jerusalem Post, in welchem Yarden Pivko, die Tochter einer der in Gaza festgehaltenen Geiseln, ihrer Meinung Ausdruck gibt.

Wie viele Israelis halte auch ich die Demonstrationen für rücksichtsloses und verantwortungsloses Verhalten. Doch die israelische Bevölkerung ist zutiefst zerrissen. Beide Lager glauben, dass das andere Lager Schuld an den Geschehnissen des 7. Oktobers hat. Doch während man nach dem 7. Oktober noch zutiefst beschämt schwieg, werden nun die Stimmen wieder lauter. Unterschiedliche Meinungen und entgegengesetzte Lager gab es in Israel schon immer. Doch der Graben zwischen den Lagern wird immer unüberbrückbarer. Das israelische Volk zerbröckelt von innen. Das ist nicht eine neue Entwicklung, doch jetzt, während eines existenziellen Krieges, ist sie gefährlicher denn je.

Wie man das wendet und dreht, die Geiselfrage ist ausweglos. Keine Regierung dieser Welt könnte sie zu Zufriedenheit lösen. Einen sehr aufschlussreichen Artikel darüber hat Dr. Ben Segenreich geschrieben. Nur die Hamas hätte es in der Hand, die Sache zu Ende zu bringen.

Ein Teil der 1,650 am 7. Oktober-Massaker abgefakelten und zerstörten israelischen Autos. Jedes einzelne erzählt eine tragische Geschichte. (Foto von Yossi Masa)




Samstag, 30. März 2024

Wenn die Gedanken woanders sind

Ich weiss nicht so recht, warum ich mir das antue, aber ich befinde mich schon wieder im Paralleluniversum Schweiz. Vielleicht ist es ein Versuch zu flüchten, obwohl ich es doch unterdessen besser wissen sollte.

Auch am Ende des vierten Tages bin ich zwar da, aber noch nicht angekommen. Ich kann einfach nicht aufhören, über diese komplett entgegengesetzte Realität zu staunen. Mir scheint, ich wandle in einer bizarren Fiktion. Wie unbekümmert und arglos die Menschen leben, während anderswo die Welt zusammenbricht. Wie friedlich, während sich anderswo alles nur noch um Terror, Trauer und Trauma dreht. 

Die Schweiz erscheint mir ein Wunderland, Disneyland, ein Märchenland. Diese unerträgliche Leichtigkeit, ich kann es nicht fassen. Die Schweiz ist ein Honigtöpfchen. Israel zurzeit ein Eimer brodelnder Scheiße.

Heute unternehmen wir eine wunderbare Wanderung. Die Augen – staunen über das Grün, die Hügel, die blühenden Bäume, die grasenden Kühe und die Berge am Horizont. Die Gedanken – sind bei den Ermordeten, den Verletzten und bei den Geiseln. Schritt auf Tritt denke ich an Daniela Gilboa, die in diesen Tagen 20 Jahre alt geworden ist. 

Daniela Gilboa wurde am 7. Oktober von palästinensischen Terroristen nach Gaza entführt und wird dort seither festgehalten.
Am 27. M
ärz war ihr 20. Geburtstag. Niemand weiss, wie es ihr geht
 


Es ist eine tolle Wanderung, aber ich kann es nicht genießen. Wie könnte ich? Bitte kommen Sie mit mir auf die Reise.

Liebe Leser, denken Sie sich die Namen der besten Schulkameraden ihrer Kinder aus. Wirklich gute Freunde, die bei Ihnen zu Hause ein und aus gegangen sind. Denken Sie an die Freunde und nennen Sie einige Namen. Vielleicht Luca, Joel und Noah? Laura, Julia und Melanie?

Jetzt stellen Sie sich vor, dass einige dieser Freunde von Terroristen verfolgt worden sind, als sie an einer Party feierten und tanzten. Einer von ihnen ist mit einer Schusswunde davongekommen. Ein anderer wird als Geisel von denselben Terroristen festgehalten, schon ein halbes Jahr, ohne ein Lebenszeichen. Denken Sie an das Mädchen in der Strasse hinter Ihrem Haus, das sich an der Fasnacht vor einigen Jahren gemeinsam mit Ihrer Tochter als Barbie verkleidet hat. Auch sie ist an der Party von den Terroristen gejagt und auf schrecklichste Weise ermordet worden.

Stellen Sie sich vor, dass Ihre Tochter an der Beerdigung der ermordeten Freundin teilnimmt und die gesamte Trauergemeinde sich mit dem Sarg zu Boden werfen muss, um während dem Raketenalarm Schutz zu suchen.

Wie heisst der beste Freund ihres Kindes? Nennen Sie seinen Namen. Stellen Sie sich vor, dass er im Militär-Reservedienst eine Hand, einen Arm und ein Bein verloren hat. Jeden Tag denken Sie daran, wie Sie ihm begegnen und wie Sie die Fassung bewahren sollen, wenn Sie ihn wiedersehen werden.

Bestimmt ist ihre Vorstellungskraft jetzt schon arg strapaziert, aber es geht noch weiter.

Stellen Sie sich vor, dass 240 Kinder, Mütter, Väter und Freunde ihrer Bekannten, ihrer Nachbarn, ihrer Mitarbeiter, unter katastrophalen, jegliches Menschenrecht verachtenden Umständen von Terroristen verschleppt worden sind und teilweise verletzt und aufs schwerste misshandelt in Geiselhaft gehalten wurden. 130 davon immer noch gehalten werden. Ohne ein Lebenszeichen, bald ein halbes Jahr.

Haben Sie einen Vater? Stellen Sie sich ihren Vater mit 87 Jahren vor. Seit einem halben Jahr in Geiselhaft von Terroristen.

Denken Sie an weitere Bekannte, die mit Ihren Kindern die Schulbank gedrückt, nachmittags Fussball gespielt, Partys und Geburtstage gefeiert haben. Stellen Sie sich vor, dass diese nun in der Armee gegen diese Terroristen kämpfen und im Inferno ihr Leben riskieren. Jeden Tag können ihre Namen in den Nachrichten erscheinen, unter den täglichen Gefallenen. Wenn sie wieder einige Wochen dem grausamen russischen Roulette entkommen sind, treffen sie sich am Urlaubswochenende mit Ihren Kindern bei Ihnen in der Stube. Dann rücken sie wieder ein.

Und jetzt nur noch etwas Kleines, aber auch nicht zu Verachtendes: Stellen Sie sich vor, dass die ganze Welt über Sie herzieht, weil fast jeder Durchschnittseuropäer und -Amerikaner ganz genau und auf jeden Fall besser als Sie weiß, wie Sie sich zu verhalten und was Sie jetzt zu tun haben.

Und jetzt genießen Sie die Wanderung.





Montag, 18. März 2024

Die Welt steht Kopf

Mein Alltag hat sich normalisiert. Ein Alltag im Ausnahmezustand. Alles soll so normal wie möglich weitergehen, trotz den ungewöhnlichen Umständen. Und das tut es und ich habe das Gefühl, dass es nicht nur mir so geht. Es gibt Routine, aber normal ist gar nichts. Auch während ich diesen Beitrag schreibe, vernehme ich mehrere Male das dumpfe, aber unverkennbare Brummen von Flugzeugen, die über unsere Region in den Norden fliegen. Es ist kein Personenflugverkehr.
Ich arbeite, verbringe meine Freizeit mit den üblichen Beschäftigungen, reise sogar. Aber mit einem kleinen Unterschied, der alles verändert: Die Lebensfreude ist grösstenteils weg, oder nur noch in einigen spärlichen Momenten vorhanden.
Das ist nicht verwunderlich, denn zu unserem Alltag gehören die traumatischen Erinnerungen an die Ereignisse des 7. Oktobers, ein Krieg ohne absehbares Ende, gefallene Soldaten, die unsere Kinder und Ehemänner sind, tägliche Attentate und die Auseinandersetzung mit den in Gaza festgehaltenen Geiseln.


Die Meldungen über gefallene Soldaten folgen jeden Morgen, so sicher wie der nächste Sonnenaufgang. Jede einzelne Meldung zerreisst mir das Herz. Meistens sind die Soldaten im Alter meiner Kinder. Vor einigen Tagen der 21-jährige David Sasson aus unserem Nachbardorf, der einen Jahrgang unter meiner Tochter Lianne die Oberstufe besuchte. Was für ein wunderbarer, wertvoller, schöner junger Mann. 





Als ob der Krieg an den Fronten nicht genug wäre, werden im Zentrum Israels fast täglich Menschen in eben so brutalen wie sinnlosen Attentaten ermordet.

Der 7. Oktober rückt in die Ferne, aber für uns ist er jeden Tag präsent. Noch immer ist die Zahl eben so unfassbar wie die Gräueltaten selbst: 1200 Ermordete. Ich verfolge Iron.Flowers2023 auf Instagram, wo jedem von ihnen einige Bilder und Zeilen gewidmet werden. 1200 strahlende, lachende, junge Menschen, voller Leben und Begabungen und Erwartungen an die Zukunft. Die Umstände ihres Todes sind immer unvorstellbar grauenhaft. Auch wenn man es noch so sehr möchte – man kann das in Israel nicht ignorieren, denn es handelt sich um die Kinder unserer Nachbarn, unserer Mitarbeiter und unserer Freunde.


Dieses Wochenende lese ich einen Beitrag über die Schwestern Hodaya und Tair David, zwei lebensfrohe junge Frauen im Alter von 23 und 26 Jahren, die das verhängnisvolle Musikfestival in Re'im besucht hatten. Ihr Vater Uri erzählt, er habe am frühen Samstagmorgen des 7. Oktobers dreissig Minuten lang mit ihnen telefoniert, wahrend sie vor den Terroristen flüchteten. Als er am Telefon Schüsse hörte, sagte er ihnen, sie sollten sich auf den Boden legen, möglichst leise atmen und sich an den Händen halten. Dann hörte er Stimmen auf Arabisch, kurz darauf wurde die Leitung unterbrochen. Wie so viele suchte er eine ganze Woche lang verzweifelt nach Informationen, bis die Beamten ihm die schlechte Nachricht überbrachten. Der Tod seiner beiden Töchter sei durch einen DNA-Test bestätigt worden, und es wurde ihm nahegelegt, sich die Leichen nicht anzusehen.


Das Trauma des 7. Oktobers ist immer da. Wie tanzende Schatten an der Wand nimmt es für jeden von uns täglich andere Formen an. 


Itay trifft sich am Freitagabend mit Freunden und erzählt am Morgen danach von den Erlebnissen eines Kameraden, der am 7. Oktober im Dienst um sein Leben gekämpft und durch ein Wunder überlebt hat. Er musste sich den Weg über die entstellten Leichen seiner Freunde bahnen und hat in den Tagen und Wochen danach Schreckliches und Unbeschreibliches gesehen. Trotzdem ist er seit dem 7. Oktober ununterbrochen im Dienst. Die Bilder, die ihn rund um die Uhr verfolgen, gehören dazu, zum Dienst, zu seinem Alltag, und zu den Gesprächen dieser Generation, wenn sie sich abends auf ein Bier treffen.



Und dann die Geiseln... Ich habe das grosse Glück, dass niemand in meiner Kernfamilie direkt betroffen ist. Es muss schrecklich sein, wenn ein Familienmitglied, gar das eigene Kind, durch Mord oder ein Attentat aus dem Leben gerissen wird. Geiselhaft aber bedeutet stückweise Sterben. Sterben der Hoffnung, Sterben des geliebten Menschen in einer unermesslichen Anzahl nicht enden wollender grauenhafter Momente. Stunde für Stunde, Minute für Minute, Sekunde für Sekunde stirbt die Hoffnung ein weiteres Stück, entfernt sich der geliebte Mensch ein weiteres Stück vom Leben, bis in nicht absehbarer Zeit ein grauer Schatten übrigbleibt, unklar, ob lebend oder tot. Eine unvorstellbare Tortur.




Aber vielleicht das Schlimmste an der Situation, in der wir uns befinden, ist die Reaktion des „zivilisierten Westens“ auf Israels Verteidigungskrieg gegen den völkermordenden Feind. Die Bevölkerung Israels befindet sich in einem Zustand von Trauma, Trauer und Angst. In dieser verzweifelten Situation auch noch des Verbrechens beschuldigt zu werden, dessen Opfer wir sind – das ist so unbeschreiblich peinigend, dass ich mich gar nicht damit beschäftigen kann.

Israel und die israelische Armee werden als mutwillige Mörder Unschuldiger dargestellt. Israel und die israelische Armee – das sind ich und meine Kinder.

In den Acht-Uhr-Nachrichten schnappe ich auf dem Weg ins Büro auf, dass Rania, die Königin von Jordanien behauptet hat, Israel hätte die Katastrophe vom 7. Oktober „nur einmal“ erlitten – das palästinensische Volk in Gaza hingegen hätte bereits mehr als 150 Mal den 7. Oktober erlebt. Was für eine unerträgliche, verlogene Behauptung! Kein einziger israelischer Soldat verfolgt, schändet, missbraucht und ermordet jubelnd und frohlockend unschuldige Zivilisten, wie es die palästinensischen Terroristen am 7. Oktober getan haben. Ich weiss das aus erster Hand, denn die israelischen Soldaten sind meine Kinder und ihre Freunde. Ich weiss, was sie tun und wie sie sich dabei fühlen.

Wenn es wirklich 30'000 palästinensische Opfer geben soll – wo sind die Listen mit den Namen? Wo sind die Bilder? Wo sind die Gräber? Und wie kann es sein, dass die Hamas zuverlässig Zehntausende Tote zählen kann, gleichzeitig aber behauptet, keine Informationen darüber zu haben, wie viele der mehr als Hundert israelischen Geiseln noch am Leben sind und wo sie festgehalten werden?

Ich konsumiere nur noch ganz selten westliche Medien, aber manchmal wage ich es, dem Horror ins Gesicht zu sehen. Fast alle Berichte sind entweder gezielte Fehlinformationen, oder einfach vollkommen verzerrt und gelogen. Und erst die Leserkommentare! Warum glauben so viele diese offensichtlichen Unwahrheiten, die von der Hamas verbreitet werden? Warum fallen so viele auf diese unverfrorene Verdrehung der Tatsachen herein? Warum mutet sich jeder Hinz und Kunz in Europa an, haargenau zu wissen, was bei uns abläuft und meint, seinen Senf dazugeben zu müssen? Warum erdreisten sich Menschen von ihren gemütlichen Stuben aus, uns, die Geschändeten, die Traumatisierten, mit Füssen zu treten, während wir einen verzweifelten Kampf um unser Überleben kämpfen? Wie kann es sein, dass ein Grossteil der Menschheit so schnell wieder ihren moralischen Kompass verliert? Es ist einfach unerträglich, mir wird schlecht, wenn ich mich damit befasse.

Die Welt steht Kopf. Politiker biegen die Wahrheit nach eigenem Vorteil krumm und verbreiten unsinnige Informationen. Medien übernehmen skrupellos erlogene Nachrichten. Die Menschheit hat den Kurs verloren und identifiziert sich mit paradox verdrehten Werten.

"Es ist, als würde ich im Auto auf der richtigen Spur fahren, während mir jedoch Dutzende hasserfüllte Zombies entgegenkommen, die glauben, dass ich in die falsche Richtung fahre und die mich deswegen töten wollen." Das schreibt Arye Shalicar, der deutschsprachige Militärsprecher der IDF. Arye verspricht, dass er stabil auf der richtigen Spur bleiben wird, komme was wolle! 

Ich bin überzeugt, dass der Krieg sehr schnell zu Ende sein könnte, wenn wir alle in die richtige Richtung fahren würden! 



Ein Moment des Staunens am Donnerstagabend

Sonntag, 25. Februar 2024

Fusion

Wie immer hat das Abstand nehmen gut getan. Ich kann in der Schweiz etwas abschalten, tanke neue Kräfte und kehre – trotz der weiterhin katastrophalen Situation – etwas zuversichtlicher nach Israel zurück. Nicht zuletzt ist das der wunderbaren Basler Fasnacht zu verdanken. Die Ausgelassenheit an diesem Anlass, die grenzenlose Kreativität und der Aufwand bringen mich zum Staunen und Lachen wie ein kleines Kind. Das scheint ja auch das hauptsächliche Bemühen der aktiven Fasnächtler zu sein: gute Laune zu verbreiten und Menschen fröhlich zu stimmen. Ja, vor allem Kinder. Für sie müssen diese Tage besonders bezaubernd sein. Die Waggisse (traditionelle Fasnachtsfigur) steigen während dem Cortège von den Wagen, um den "Binggis" (Kinder) Süssiggkeiten und kleine Geschenke in die Taschen zu stecken. Wie wundervoll muss es für die Kleinen sein, von diesen zauberhaften Figuren mit so viel Aufmerksamkeit und allem, was ihr Kinderherz begehrt, überhäuft zu werden. 

Wie schön wenn eine Gesellschaft ihre Kinder ehrt und sie zu Werten von Weltlichkeit, Selbstbestimmung, Individualität, Solidarität, Toleranz und vor allem Respekt gegenüber jedem einzelnen Menschen und dessen Würde grosszieht.

 


Während in Basel die Stadtverwaltung die Räppli (Konfetti) von den Strassen putzt, fahren wir zum Flughafen in Zürich und ehe ich mich versehe und ohne richtig wahrzunehmen, was dazwischen passiert, erwache ich am nächsten Morgen wieder in meinem eigenen Bett in Israel.

Warum zermartere ich mir eigentlich schon eine Ewigkeit mit dem Identitätsdilemma Israel-Schweiz den Kopf? Seit Jahren fühle ich mich hin- und hergerissen. Bin ich nun Israeli oder Schweizerin? Wo fühle ich mich wirklich zu Hause? Bin ich ein Pferd oder bin ich ein Esel?
Manchmal wächst man in die Antwort hinein. Ich muss mir diese Frage gar nicht stellen. Ich bin beides. (Ja, auch ein Esel)
Offensichtlich kann man zwei Heimaten haben. Ich lebe seit mehr als der Hälfte meines Lebens in Israel und bin inzwischen wohl vor allem sehr Israeli. Ich fühle mich aber auch in der Schweiz immer noch sehr wohl und zu Hause. Nicht alles muss in eine Schublade passen. Vor allem nicht ein Herz.
Heute koche ich – von der Schweiz inspiriert – Rösti und dazu die heute Morgen wieder im Zitrushain frisch gepflückten israelischen wilden Spargeln. Wie nennt man das noch gleich? Fusion?



Leider bringt diese Fusion im Moment nicht nur Gutes. Wenn mich auch die Distanz und die Fasnacht dazu verführt haben, etwas abzuschalten, ist es mit der Unbeschwertheit schlagartig nach der Landung im Ben Gurion Flughafen vorbei. Beim Gang zur Passkontrolle erinnern grosse, sorgfältig aufgereihte Gesichter mit Namen und Alter an jede einzelne der israelischen Geiseln in Gaza. Mehr als Hundert grosse Bilder stehen da und sie versinnbildlichen den Heimkehrenden oder auch den seltenen Touristen, was Israel im Moment ist: nicht Palmen und Mittelmeer, nicht Wüste und Totes Meer, nicht Humus und Felafel. Geiseln, Krieg und Attentate. Schon 141 Tage. Wie lange noch? Die Tage ziehen sich in die Länge und werden zu einer nicht mehr nachvollziehbaren Masse. Der israelische junge Soldat Gilad Shalit wurde mehr als fünf Jahre in Gaza festgehalten. Was wird mit diesen Geiseln sein?

Als ich am Morgen in meinem bequemen Bett noch die aufgrund der Reise fehlenden Stunden nachschlafe, fahren drei palästinensische Mörder mit zwei Autos an das Ende eines Staus auf der Autobahn am Stadtrand von Jerusalem und eröffnen mit automatischen Waffen das Feuer. Bewaffnet mit Gewehren, Maschinenpistolen und Handgranaten schiessen sie wahllos auf einer Strecke von einem halben Kilometer auf die in den Autos sitzenden Menschen. Sie ermorden einen 26-jährigen Israeli und verletzen elf weitere zum Teil schwer. Viele erleiden Schusswunden im Oberkörper. Eine junge hochschwangere Frau muss in kritischem Zustand notoperiert werden, es ist unklar, ob ihr ungeborenes Kind gerettet werden kann. Ein 23-jähriger Soldat, der vor zwei Wochen aus dem Gazastreifen zurückgekehrt ist, eliminiert die um sich schiessenden Terroristen und kann so ein grösseres Blutbad verhindern, wird aber auch schwer verletzt. 
Die Terroristen stammen aus Bethlehem, einer von ihnen ist Arzt und junger Familienvater. Dass er von diesem Attentat nicht lebend zurückkommen wird, muss er einkalkuliert haben. Hat es sich für die palästinensische Sache gelohnt? Hat es seine, nun verwaisten, Kinder auch nur einen Schritt weiter in eine bessere Zukunft gebracht?